Gärtners kritisches Sonntagsfrühstück: Allerhöchste Moral
Mal wieder, nach langer Zeit, Spiegel online gelesen; alles wie immer. Ein grüner Bundestagsabgeordneter wird mit einem halben Gramm Crystal Meth erwischt, und das ist natürlich „fatal“, bedeutet einen neuen „Drogenskandal“: „Zwar sollen nur 0,6 Gramm sichergestellt worden sein. Doch selbst solch eine kleine Menge kann politische Karrieren gefährden.“ Na hoffentlich! „Der Fall Volker Beck ist doppelt desaströs“, denn das ist ja wohl das mindeste. „Nach einem Karriereknick 2013 hatte sich der Politiker gerade wieder aufgerappelt. Das Drogendebakel“, das doppelt desaströse, „könnte seine Laufbahn nun endgültig blockieren. Fatal sind die Schlagzeilen auch für seine eigene Partei, die in elf Tagen bei wichtigen Landtagswahlen punkten will.“ Nämlich bei Leuten, die Drogenkonsum nicht für die Privatangelegenheit halten, die er ist.
„Der Bundestag ist eine unglaubliche Alkoholikerversammlung, die teilweise ganz ordinär nach Schnaps stinkt“, fand der Novize Jockel Fischer 1983. „Je länger die Sitzung dauert, desto intensiver.“ 1994 trat, Youtube weiß es, der Abgeordnete Kleinert im Vollsuff vors Parlament, und wer dranbleibt, wird mit der Landtagsrede des bis zum Überlauf betankten hessischen FDP-Politikers Heidel belohnt, dessen Vortrag eine sowohl politische als auch persönliche Kernwahrheit vorausschickte: „Milch ist gesund, Milch schmeckt hervorragend, und Milch tut jedem von uns gut, wenn er sie trinkt.“ Berufspolitiker ist, wenn schon sonst nichts, ein anstrengender Beruf, und wo die einen saufen, leben andere von Tabletten: Das bekannteste Beispiel ist Uwe Barschel, seit dessen Tod auch Glückskinder und Yogafreunde wissen, was „Tavor“ ist.
„Weintrinker sind anständige Leut’.“ Julia Klöckner, 2015
Das alles ist der Rede wert, wenn sich dabei die, die es ja nun wirklich nötig haben, Spott und Zeigefinger sparen: „Beck … gilt neben Claudia Roth wohl als größter Moralapostel seiner Partei, womit er auch in den eigenen Reihen vielen immer wieder auf die Nerven gegangen ist.“ Das glaubt man gern. „Bei den Verschärfungen der Asylgesetze im Oktober stimmte Beck gegen die Linie seiner Fraktion. ,Ich möchte diesen Verschärfungen im Bundestag nicht über die Hürde helfen’, sagte er damals, als erneut weitere Staaten zu sogenannten sicheren Herkunftsländern erklärt wurden.“ Und wer mit derart humanistischen Beiträgen allzu schlimm genervt hat, darf natürlich auch einmal tief fallen, damit die Deppenpresse Politik wieder zur Frage der persönlichen Moral machen kann, indem sie insinuiert, der Gebrauch illegaler Drogen sei unmoralisch.
Er ist aber allenfalls schädlich, für die Leber oders Zentralnervensystem, und mit Moral hat das erst dann wieder was zu tun, wenn man berauscht jemanden totfährt. Wer hier die Frage von legal/illegal zu einer moralischen macht, will bloß mit dem Über-Ich auf Duzfuß kommen und ruft jenes gesunde Sittlichkeitsempfinden an, das als solches nicht nur immer unrecht hat, sondern in Drogenfragen verläßlich heuchelt, ob in puncto Cannabis oder der völlig selektiven Einrichtung alkoholfreier Zonen:
„Wie bei anderen Drogen setzt auch die Alkoholpolitik stets bei jenen an, die keine sozialen Privilegien genießen wie Politiker und Richter. Über ein Verbot des Bierverkaufs an Tankstellen oder am Kiosk nach 22 Uhr wird regelmäßig diskutiert, aber ein Rotweinverbot in Edelrestaurants wäre undenkbar. Nach einem brutalen Überfall in einem Berliner U-Bahnhof 2011, bei dem der Täter angab, betrunken gewesen zu sein, forderte Bayerns Innenminister Joachim Herrmann (CSU) ein Alkoholverbot im öffentlichen Personennahverkehr. Ein Alkoholverbot auf dem Oktoberfest hingegen wird ein bayerischer Politiker nie in Betracht ziehen. In diesem Jahr mußte das Rote Kreuz 7551 Menschen versorgen, es gab 58 Maßkrugschlägereien, 16 Sexualdelikte, 449 Körperverletzungen. ,Es war eine normale, man möchte fast sagen, eine ruhige Wiesn’, bilanzierte das DRK“, bilanzierte die Jungle World im November 2013.
Woran wir gern die Bilanz anschließen: Wer ein Problem mit Crystal Meth hat, gehört zum Arzt. Und nicht zu den nervenden Moralaposteln von Spiegel online.
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