Aus Eugen Egners Püppchenstudio
Vielleicht leben deine Eltern in einem anderen Stadtteil weiter (XI und Schluß)
Für das Heim stellte der Verkauf der Sakralobjekte eine wichtige Einnahmequelle dar, deshalb waren Störungen im Produktionsablauf unbedingt zu vermeiden. In manchen Jahren gelang es jedoch nicht, ausreichend viele tote Motten zu beschaffen, und heuer herrschte ein solcher Mangel, daß die Objektfertigung zum Erliegen gekommen war. Um eine neue Bezugsquelle auszukundschaften, hatte die Heimleitung den von allen Kindern zu Recht gefürchteten Aufseher Real Karl-Heusenstock losgeschickt. Ihm war ein geistig schwaches Kind als Aktentaschenträger mitgegeben worden, und dieses Kind war Albert Ellfried. Unterwegs hatte Albert es irgendwie geschafft, Real Karl-Heusenstock zu entkommen und sich die Tarnung als alter Mann zuzulegen. Der Nachteil dieser Tarnung war allerdings, daß Alberts ohnehin geringe mentale Fähigkeiten von dem alten, narkoleptischen Gehirn, das er nun benutzen mußte, zusätzlich eingeschränkt wurden. Daher konnte er sich weder erinnern, wie er seine Flucht bewerkstelligt und die Tarnexistenz gefunden hatte, noch wie letztere wieder abzulegen war. Er schüttelte den müden Kopf, die Benommenheit verflüchtigte sich und mit ihr die Phantasien über Motten und geistig schwache Kinder. Ohne es zu bemerken, hatte Albert den Rückweg angetreten. Das schäbige Viertel lag hinter ihm, er war fast schon bei der Brücke, die zur „richtigen“ Seite der Bahnlinie führte. Da kamen ihm zwei Menschen entgegen, eine Frau und ein Mann. Bald waren sie so nah, daß er sie erkennen konnte, und beim Anblick ihrer mißbilligenden Mienen stellte sich wieder das alte Unbehagen ein und der übermächtige Wunsch fortzulaufen.
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