Humorkritik | Januar 2023

Januar 2023

»Im besten Fall bewahrt einen irgendwann eigene Einsicht und nicht nur eine Mehrheitsentscheidung davor, bestimmte Witze rauszuhauen. Das Verb deutet es ja schon an: Die Energie dahinter ist von der Gewalt nicht frei, die sie im Humor bannen will. Es gibt gute Gründe dafür, sich Sprachen und Humor zu wünschen, die auf jede Form von Gewalt verzichten können. Vielleicht entstünden sie von allein in einer Welt, die durch die Abwesenheit von Gewalt gekennzeichnet wäre.«
Hanna Engelmeier

Gitter-Godot

Kultur in unkultiviertes Gebiet zu transportieren – das ist die Grundlage vieler Varianten tragikomischer Filme: engagierte Lehrerin trifft auf Ghetto-Kids, engagierter Ausbilder trifft auf Soldaten, engagierter Knasthelfer trifft auf Knastis … Na gut, vielleicht sind es doch nur drei Varianten. Denen jedenfalls die Gefahr gemein ist, auf eine unangenehm moralische Schiene zu geraten, an deren Ende die künstlerische Erlösung steht, die Erhebung und Läuterung roher Barbaren durch Gedichte, Musik und Schöngeisterei; die fromme Erzählung letztlich von Bildung, Bildung, Bildung als Ausweg aus jeder nur denkbaren gesellschaftlichen Misere.

Davor ist »Ein Triumph« schon einmal gefeit, denn der Film rund um den französischen Erfolgskomiker und Hauptdarsteller Kad Merad beruht auf einer wahren Geschichte. Nämlich der eines mittelerfolgreichen Schauspielers, seit drei Jahren ohne Engagement, der einen Theaterkurs in einem Gefängnis übernimmt. Zu Beginn scheinen die Erwartungen klar: Étienne, der Schauspieler und Regisseur, bekommt seine Gage; seine Schützlinge bekommen einen Auftritt bei einem bunten Abend im Gefängnis und Hafterleichterung. Bald merkt Étienne allerdings, dass die verstaubten Fabeln, die traditionell einstudiert und dargeboten werden, seine Mimen unterfordern, und als er mitbekommt, dass Haft vor allem aus Warten besteht – »Warten auf den Familienbesuch, Warten auf den Hofgang, Warten auf das Essen« –, verfällt er auf eine naheliegende Idee: Er überredet die Gefängnisdirektorin, »Warten auf Godot« inszenieren zu dürfen, mit einem Auftritt in einem richtigen Theater, in Freiheit. Die Sache wird ein großer Erfolg, andere Theaterhäuser zeigen Interesse, die Knastbrüder gehen auf Tour, werden berühmt und bleiben dennoch nicht vor den Demütigungen ihres Alltags verschont: bewacht zu werden, gefilzt zu werden, ja nicht einmal ihre Blumensträuße behalten zu dürfen. »Wir machen keine Resozialisierung!« ruft Étienne einmal. »Wir machen Theater! Das Publikum soll vergessen, wer ihr seid!« – »Nur wir dürfen’s nicht«, resümiert einer der Häftlinge trocken.

Das ist meist mehr Tragik- als -omödie, wenngleich es schön enthemmte Szenen gibt – die euphorisierten Gefangenen im Gefängnisbus, kurz nach dem Auftritt, sollen wieder einmal durchsucht werden, ziehen sich allesamt freiwillig nackt aus und tanzen den Wärtern davon – , und Komik, die sich aus dem Höhenunterschied zwischen Großkultur und selbstbewusst-machoider Ahnungslosigkeit ergibt: »Das ist Samuel Beckett. Ein Genie. Er hat den Nobelpreis bekommen.« – »Hä, war das nicht … wie heißt der Wichser noch gleich … Einstein?« Einmal muss auch geklärt werden, was das eigentlich sein soll, ein absurdes Theaterstück: »Sie warten auf ihn? Er kommt nicht? Warum rufen sie ihn nicht einfach an?« Bleibt zu erwähnen, dass Godot in dieser speziellen Version übrigens doch noch kommt: als russischsprachiger Mithäftling, der unzufrieden ist mit seiner Rolle als Souffleur, und in ein Tuch gehüllt über den Bühnenhintergrund gespenstert. Seit Mitte Dezember läuft »Ein Triumph« in Deutschland, und wer wissen möchte, auf welches gar nicht moralische Gleis der Film am Ende gerät, dem verrate ich wie üblich: rien.

  

Aktuelle Startcartoons

Heftrubriken

Briefe an die Leser

 Recht haben Sie, Uli Wickert (81)!

Recht haben Sie, Uli Wickert (81)!

Die Frage, weshalb Joe Biden in seinem hohen Alter noch mal für das Präsidentenamt kandidiert, anstatt sich zur Ruhe zu setzen, kommentieren Sie so: »Warum muss man eigentlich loslassen? Wenn man etwas gerne macht, wenn man für etwas lebt, dann macht man halt weiter, soweit man kann. Ich schreibe meine Bücher, weil es mir Spaß macht und weil ich nicht Golf spielen kann. Und irgendwie muss ich mich ja beschäftigen.«

Daran haben wir, Wickert, natürlich nicht gedacht, dass der sogenannte mächtigste Mann der Welt womöglich einfach keine Lust hat, aufzuhören, auch wenn er vielleicht nicht mehr ganz auf der Höhe ist. Dass ihn das Regieren schlicht bockt und ihm obendrein ein Hobby fehlt. Ja, warum sollte man einem alten Mann diese kleine Freude nehmen wollen!

Greifen Sie hin und wieder doch lieber zum Golfschläger statt zum Mikrofon, rät Titanic

 Kurze Anmerkung, Benedikt Becker (»Stern«)!

»Wer trägt heute noch gerne Krawatte?« fragten Sie rhetorisch und machten den Rollkragenpullover als neues It-Piece der Liberalen aus, v. a. von Justizminister Marco Buschmann und Finanzminister Christian Lindner, »Was daran liegen mag, dass der Hals auf die Ampelkoalition besonders dick ist. Da hilft so eine Halsbedeckung natürlich, den ganzen Frust zu verbergen.«

Schon. Aber wäre es angesichts des Ärgers der beiden Freien Demokraten über SPD und Grüne nicht passender, wenn sie mal wieder so eine Krawatte hätten?

Ebenso stilistisch versiert wie stets aus der Mode: Titanic

 Chillax, Friedrich Merz!

Sie sind Gegner der Cannabislegalisierung, insbesondere sorgen Sie sich um den Kinder- und Jugendschutz. Dennoch gaben Sie zu Protokoll, Sie hätten »einmal während der Schulzeit mal einen Zug dran getan«.

Das sollte Ihnen zu denken geben. Nicht wegen etwaiger Spätfolgen, sondern: Wenn ein Erzkonservativer aus dem Sauerland, der fürs Kiffen die Formulierung »einen Zug dran tun« wählt, schon in der Schulzeit – und trotz sehr wahrscheinlichem Mangel an coolen Freund/innen – an Gras kam, muss dann nicht so ziemlich jedes andere System besseren Jugendschutz garantieren?

Sinniert

Ihre Titanic

 Gute Frage, liebe »Süddeutsche«!

»Warum haben wir so viele Dinge und horten ständig weiter? Und wie wird man diese Gier wieder los?« teast Du Dein Magazin an, dasselbe, das einzig und allein als werbefreundliches Vierfarb-Umfeld für teuren Schnickschnack da ist.

Aber löblich, dass Du dieses für Dich ja heißeste aller Eisen anpackst und im Heft empfiehlst: »Man kann dem Kaufimpuls besser widerstehen, wenn man einen Schritt zurücktritt und sich fragt: Wer will, dass ich das haben will?«

Und das weiß niemand besser als Du und die Impulskundschaft von Titanic

 Ah, »Galileo«!

Über die Arbeit von Türsteher/innen berichtest Du: »Viele Frauen arbeiten sogar als Türsteherinnen«. Wir setzen noch einen drauf und behaupten: In dieser Branche sogar alle!

Schmeißen diese Erkenntnis einfach mal raus:

Deine Pointen-Bouncer von Titanic

Vom Fachmann für Kenner

 Die wahre Strafe

Verhaftet zu werden und in der Folge einen Telefonanruf tätigen zu müssen.

Fabio Kühnemuth

 Citation needed

Neulich musste ich im Traum etwas bei Wikipedia nachschlagen. So ähnlich, wie unter »Trivia« oft Pub-Quiz-Wissen gesammelt wird, gab es da auf jeder Seite einen Abschnitt namens »Calia«, voll mit albernen und offensichtlich ausgedachten Zusatzinformationen. Dank Traum-Latinum wusste ich sofort: Na klar, »Calia« kommt von »Kohl«, das sind alles Verkohl-Facts! Ich wunderte mich noch, wo so ein Quatsch nun wieder herkommt, wusste beim Aufwachen aber gleich, unter welcher Kategorie ich das alles ins Traumtagebuch schreiben konnte.

Alexander Grupe

 Spielregeln

Am Ende einer Mensch-ärgere-dich-nicht-Partie fragt der demente Herr, ob er erst eine Sechs würfeln muss, wenn er zum Klo will.

Miriam Wurster

 Altersspezifisch

Ich gehöre noch zu einer Generation, deren Sätze zu häufig mit »Ich gehöre noch zu einer Generation« anfangen.

Andreas Maier

 Konsequent

Die Welt steckt in der Spermakrise. Anzahl und Qualität der wuseligen Eileiter-Flitzer nehmen rapide ab. Schon in wenigen Jahren könnten Männer ihre Zeugungsfähigkeit vollständig verlieren. Grund hierfür sind die Verkaufsschlager aus den Laboren westlicher Großkonzerne. Diese Produkte machen den Schädling platt, das Plastik weich und das Braterlebnis fettfrei und wundersam. Erfunden wurden diese chemischen Erfolgsverbindungen von – Überraschung – Y-Chromosom-Trägern. Toll, dass sich Männer am Ende doch an der Empfängnisverhütung beteiligen.

Teresa Habild

Vermischtes

Erweitern

Das schreiben die anderen

Titanic unterwegs
27.04.2024 Schwerin, Zenit Martin Sonneborn mit Sibylle Berg
28.04.2024 Lübeck, Kolosseum Martin Sonneborn mit Sibylle Berg
29.04.2024 Berlin, Berliner Ensemble Martin Sonneborn mit Sibylle Berg
30.04.2024 Hamburg, Kampnagel Martin Sonneborn mit Sibylle Berg