Humorkritik | September 2022

September 2022

»Das betont Eindringliche der Satire ist unnötig. Es genügt durchaus, die Dinge so darzustellen, wie sind sind. Sie sind an sich schon lächerlich genug.«
Jules Renard

Allein auf Hochzeitsreise

In Tagebüchern geht es bekanntlich immer ums Ganze, um die nackte Wahrheit, rückhaltlose Aufklärung, schonungslose Selbstentblößung. Das wusste auch Jules Renard, der in sein Diarium hineinschrieb: »Wir sollten intolerant gegen uns selbst sein!« Aber ehrlich gesagt geht es in Tagebüchern dann doch am Ende immer nur um jene Wahrheit, die die tagebuchschreibende Person meint: »Wozu wohl diese Tagebücher? Keiner sagt die Wahrheit, nicht einmal der, der sie schreibt.« Auch das wusste also dieser Renard, der von 1864 bis 1910 lebte, ein paar Romane, Erzählungen und Theaterstücke hinterlassen hat – und eben jene Tagebücher, denen er verdankt, nicht ganz in Vergessenheit geraten zu sein.

Das wiederum liegt daran, dass sie allenfalls am Rande Wahrheiten oder Nichtwahrheiten beinhalten, sondern etwas ganz anderes, eher an Lichtenbergs »Sudelbücher« Erinnerndes. Zumindest wenn ich mich an dem orientiere, was uns in einer vergleichsweise schmalen (416 Seiten; die französische Originalausgabe umfasst dagegen insgesamt fünf Bände), nach einer Erstausgabe von 1986 nun wieder aufgelegten und mit dem etwas unförmigen Titel »Nicht so laut, bitte! Wenn Sie die Wahrheit sagen, schreien Sie immer so« (Kampa) versehenen Auswahl dargeboten wird. Aber historisch-kritisch-philologische Fragen sind mir, entre nous, sowieso eher egal, ich erfreue mich an der Masse und Klasse all der merk- und denkwürdigen Ein- und Ansichten, die Renard nahezu Tag für Tag ausgeheckt und zum Glück auch notiert hat: »Er war so hässlich, dass er beim Grimassenschneiden schon nicht mehr so garstig aussah«; »Die Angst vor der Langeweile ist die einzige Entschuldigung für die Arbeit«; »Als das Pferd scheute und sich aufbäumte, bekam die Lokomotive es mit der Angst zu tun und entgleiste«; »Oh! Seine Hochzeitsreise ganz allein machen!«; »Deutsch ist die Sprache, in der ich mit Vorliebe schweige«; »Nur die Reichen erben eine Million«; »Der Blitz hat in eine Fabrik für Blitzableiter eingeschlagen«. Es genügt durchaus, die Dinge einfach nur zu zitieren. Aber ich höre ja schon auf.

Obwohl Renard berühmte Bewunderer (Beckett, Tucholsky) hatte und hat (Julian Barnes), kommt ihm, wenn ich recht informiert bin, bis heute nicht der Status zu, der ihm gebührt: als einer der Großen des komischen Aphorismus, dessen Werk wir pflegen und weiterreichen sollten an künftige Generationen zu deren Belehrung und Erbauung.

Mir kann niemand vorwerfen, ich hätte es nicht versucht.

  

Aktuelle Startcartoons

Heftrubriken

Briefe an die Leser

 Ziemlich beunruhigt, Benjamin Jendro,

lässt uns Ihr vielzitiertes Statement zur Verhaftung des ehemaligen RAF-Mitglieds Daniela Klette zurück. Zu dem beeindruckenden Ermittlungserfolg erklärten Sie als Sprecher der Gewerkschaft der Polizei: »Dass sich die Gesuchte in Kreuzberg aufhielt, ist ein weiterer Beleg dafür, dass Berlin nach wie vor eine Hochburg für eine gut vernetzte, bundesweit und global agierende linksextreme Szene ist.«

Auch wir, Jendro, erkennen die Zeichen der Zeit. Spätestens seit die linken Schreihälse zu Hunderttausenden auf die Straße gehen, ist klar: Die bolschewistische Weltrevolution steht im Grunde kurz bevor. Umso wichtiger also, dass Ihre Kolleg/innen dagegenhalten und sich ihrerseits fleißig in Chatgruppen mit Gleichgesinnten vernetzen.

Bei diesem Gedanken schon zuversichtlicher: Titanic

 Kurz hattet Ihr uns, liebe Lobos,

Kurz hattet Ihr uns, liebe Lobos,

als Ihr eine Folge Eures Pärchenpodcasts »Feel the News« mit »Das Geld reicht nicht!« betiteltet. Da fragten wir uns, was Ihr wohl noch haben wollt: mehr Talkshowauftritte? Eine Homestory in der InTouch? Doch dann hörten wir die ersten zwei Minuten und erfuhren, dass es ausnahmsweise nicht um Euch ging. Ganz im Sinne Eures Formats wolltet Ihr erfühlen, wie es ist, Geldsorgen zu haben, und über diese Gefühle dann diskutieren. Im Disclaimer hieß es dann noch, dass Ihr ganz bewusst über ein Thema sprechen wolltet, das Euch nicht selbst betrifft, um dem eine Bühne zu bieten.

Ihr als Besserverdienerpärchen mit Loft in Prenzlauer Berg könnt ja auch viel neutraler und besser beurteilen, ob diese Armutsängste der jammernden Low Performer wirklich angebracht sind. Leider haben wir dann nicht mehr mitbekommen, ob unser Gefühl, Geldnöte zu haben, berechtigt ist, da wir gleichzeitig Regungen der Wohlstandsverwahrlosung und Realitätsflucht wahrnahmen, die wir nur durch das Abschalten Eures Podcasts loswerden konnten.

Beweint deshalb munter weiter den eigenen Kontostand: Titanic

 Persönlich, Ex-Bundespräsident Joachim Gauck,

nehmen Sie inzwischen offenbar alles. Über den russischen Präsidenten sagten Sie im Spiegel: »Putin war in den Achtzigerjahren die Stütze meiner Unterdrücker.« Meinen Sie, dass der Ex-KGBler Putin und die DDR es wirklich allein auf Sie abgesehen hatten, exklusiv? In dem Gespräch betonten Sie weiter, dass Sie »diesen Typus« Putin »lesen« könnten: »Ich kann deren Herrschaftstechnik nachts auswendig aufsagen«.

Allerdings hielten Sie sich bei dessen Antrittsbesuch im Schloss Bellevue dann »natürlich« doch an die »diplomatischen Gepflogenheiten«, hätten ihm aber »schon zu verstehen gegeben, was ich von ihm halte«. Das hat Putin wahrscheinlich sehr erschreckt. So richtig Wirkung entfaltet hat es aber nicht, wenn wir das richtig lesen können. Wie wär’s also, Gauck, wenn Sie es jetzt noch mal versuchen würden? Lassen Sie andere Rentner/innen mit dem Spiegel reden, schauen Sie persönlich in Moskau vorbei und quatschen Sie Putin total undiplomatisch unter seinen langen Tisch.

Würden als Dank auf die Gepflogenheit verzichten, Ihr Gerede zu kommentieren:

die Diplomat/innen von der Titanic

 Hey, »Zeit«,

Deine Überschrift »Mit 50 kann man noch genauso fit sein wie mit 20«, die stimmt vor allem, wenn man mit 20 bemerkenswert unfit ist, oder?

Schaut jetzt gelassener in die Zukunft:

Deine Titanic

 Hallo, faz.net!

»Seit dem Rückzug von Manfred Lamy«, behauptest Du, »zeigt der Trend bei dem Unternehmen aus Heidelberg nach unten. Jetzt verkaufen seine Kinder die Traditionsmarke für Füller und andere Schreibutensilien.« Aber, faz.net: Haben die Lamy-Kinder nicht gerade davon schon mehr als genug?

Schreibt dazu lieber nichts mehr: Titanic

Vom Fachmann für Kenner

 Treffer, versenkt

Neulich Jugendliche in der U-Bahn belauscht, Diskussion und gegenseitiges Überbieten in der Frage, wer von ihnen einen gemeinsamen Kumpel am längsten kennt, Siegerin: etwa 15jähriges Mädchen, Zitat: »Ey, ich kenn den schon, seit ich mir in die Hosen scheiße!«

Julia Mateus

 Wenn beim Delegieren

schon wieder was schiefgeht, bin ich mit meinen Lakaien am Ende.

Fabio Kühnemuth

 Kapitaler Kalauer

Da man mit billigen Wortspielen ja nicht geizen soll, möchte ich hier an ein großes deutsches Geldinstitut erinnern, das exakt von 1830 bis 1848 existierte: die Vormärzbank.

Andreas Maier

 Parabel

Gib einem Mann einen Fisch, und du gibst ihm zu essen für einen Tag. Zeig ihm außerdem, wie man die Gräten entfernt, und er wird auch den folgenden Morgen erleben.

Wieland Schwanebeck

 No pain, no gain

Wem platte Motivationssprüche helfen, der soll mit ihnen glücklich werden. »There ain’t no lift to the top« in meinem Fitnessstudio zu lesen, das sich im ersten Stock befindet und trotzdem nur per Fahrstuhl zu erreichen ist, ist aber wirklich zu viel.

Karl Franz

Vermischtes

Erweitern

Das schreiben die anderen

  • 27.03.:

    Bernd Eilert denkt in der FAZ über Satire gestern und heute nach.

Titanic unterwegs
28.03.2024 Nürnberg, Tafelhalle Max Goldt
31.03.2024 Göttingen, Rathaus Greser & Lenz: »Evolution? Karikaturen …«
04.04.2024 Bremen, Buchladen Ostertor Miriam Wurster
06.04.2024 Lübeck, Kammerspiele Max Goldt