Humorkritik | November 2021

November 2021

»Die erste Satire wurde gewiss aus Rache gemacht. Sie zur Besserung seines Nebenmenschen gegen die Laster und nicht gegen den Lasterhaften zu gebrauchen, ist schon ein geleckter, abgekühlter, zahm gemachter Gedanke.«
Georg Chr. Lichtenberg

Wind der Vergeblichkeit

Es ist nicht auszuschließen, dass man immer noch oder schon wieder erklären muss, wer Heino Jaeger (1938–1997) war und was es mit seinem in der Komikgeschichte einzigartigen Schaffen auf sich hat. Man – also ich – müsste dann noch einmal zu beschreiben versuchen, worin der Charme und Erkenntniswert seiner gefaketen Telefoninterviews, Ratgeberparodien, Fach-, Experten- und aber auch allgemein durchschnittsmenschlichen Rede bestand und auf immer bestehen wird, die Mischung aus schierem Nonsens und realitätskonform rüberkommendem Jargon: »Wussten Sie übrigens schon«, fragt der Ratgeber Dr. Jaeger sein Publikum, das Thema Schlaflosigkeit behandelnd, »dass Ihr Körper bei nur 4 Stunden Schlaf 18 Liter Molke absondert? Achten Sie mal drauf!« Ich könnte es aber auch kurz machen und darauf hinweisen, dass man im Internet allerlei Jaegersche Bild- und Tondokumente sowie Texte finden kann und zudem natürlich auch diverse Aussagen über Jaeger. Auch aus der Zeitschrift, die Sie soeben studieren: »Die Vielfalt der von Jaeger zum Leben und Labern erweckten Figuren, ihre dialektale Dämlichkeit« sei, »man kann es nicht anders sagen: genial!«

Wenn dabei möglichst viele Menschen auf diese Genialität aufmerksam werden, begrüße ich es natürlich, dass Rocko Schamoni nun Jaegern sogar zu einer Romanfigur geadelt und dabei ein gewisses Risiko auf sich genommen hat. Denn ein Roman über eine so sprachkritische wie -bewusste Person kann scheitern. Nun denn: Genau das ist geschehen. Schon der Romantitel »Der Jaeger und sein Meister« (Hanser) scheint mir unglücklich gewählt, weil er zu viel will, er will vor allem originell sein, anspielen auf Jaegers Alkoholismus, aber auch auf das Motiv eines »Meisters«, nach dem der junge Schamoni, wie er uns in einem ausführlichen »Prolog« mitteilt, in der Hamburger »Freak«-Szene suchte und in Jaeger gefunden hat.

Dabei wird Jaeger merkwürdigerweise weniger zu einem das Buch tragenden Protagonisten als zu einer Hamburger Randfigur. Letzteres dürfte sogar den historischen Verhältnissen entsprechen. Wenn Schamoni aber Leute wie den Boxer Norbert Grupe oder den Bordellbesitzer Wolli Köhler ausführlich und geradezu hagiografisch würdigt, bleibt Jaeger viel zu blass. Nicht mal sein familiärer Hintergrund, die Kindheitsjahre in Nazizeit und Weltkrieg, sind Schamoni wichtig. Das mögen unglückliche Entscheidungen des Autors gewesen sein – inakzeptabel sind die sprachlichen Schwächen. Was Heino Jaeger 1968 in Prag erlebt hat, klingt so: »Die Gefühle der Überfallenen und ihrer Invasoren standen sichtbar in der Luft und änderten sich stündlich und situativ«. Da »durchfuhren« Jaeger »Blitzverliebtheiten«, irgendwer erbricht sich »röhrend« und eine Plattenfirma lädt Jaeger zu einem Gespräch »am Glockengießerwall am Hauptbahnhof ein. Dieser erschien dort natürlich in Begleitung seines Beraters.« Natürlich. Ohne seinen Berater wagt der Hamburger Hauptbahnhof bekanntlich keinen Schritt vor die Tür. Und dann denkt der Erzähler auch noch über den »Wind der Vergeblichkeit« nach, der »Heino Jaeger umwehte«. Im Übrigen hätte ich als Humorkritiker mir kompetentere Würdigungen der Jaegerschen Komik gewünscht als so etwas: Jaeger »lotete wie ein Höhlenforscher im Gebirge der Sprache blind die Gänge des Sagbaren aus, als Tiefenmaß einzig die Reaktionen seiner Zuschauer.«

Wie man hört, ist ein Film über Heino Jaeger geplant, nach einem Drehbuch von Rocko Schamoni. Das kann dann nur besser werden. Bis dahin halte man sich an Jaegers Originaltöne und -texte. Sie sind, ich kann es nicht anders sagen: genial.

  

Aktuelle Startcartoons

Heftrubriken

Briefe an die Leser

 Helen Fares, c/o »SWR« (bitte nachsenden)!

Sie waren Moderatorin des Digital-Formats MixTalk und sind es nun nicht mehr, nachdem Sie ein launiges kleines Video veröffentlicht haben, in dem Sie zum Boykott israelischer Produkte aufriefen, mit Hilfe einer eigens dafür programmierten App, die zielsicher anzeigt, wo es in deutschen Supermärkten noch immer verjudet zugeht (Eigenwerbung: »Hier kannst Du sehen, ob das Produkt in Deiner Hand das Töten von Kindern in Palästina unterstützt oder nicht«).

Nach Ihrem Rauswurf verteidigten Sie sich in einem weiteren Video auf Instagram: »Wir sind nicht antisemitisch, weil wir es boykottieren, Produkte von Unternehmen zu kaufen, die Israel unterstützen. Ein Land, das sich vor dem Internationalen Gerichtshof wegen Genozid verantworten muss, weil es Zehntausende von Menschen abgeschlachtet hat.« Da sich aber auch Deutschland vor dem Internationalen Gerichtshof wegen Beihilfe zum Genozid verantworten muss, war Ihre Kündigung beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk ja ohnehin einvernehmlich, oder?

Kann es sich nicht anders vorstellen: Titanic

 Kurze Anmerkung, Benedikt Becker (»Stern«)!

»Wer trägt heute noch gerne Krawatte?« fragten Sie rhetorisch und machten den Rollkragenpullover als neues It-Piece der Liberalen aus, v. a. von Justizminister Marco Buschmann und Finanzminister Christian Lindner, »Was daran liegen mag, dass der Hals auf die Ampelkoalition besonders dick ist. Da hilft so eine Halsbedeckung natürlich, den ganzen Frust zu verbergen.«

Schon. Aber wäre es angesichts des Ärgers der beiden Freien Demokraten über SPD und Grüne nicht passender, wenn sie mal wieder so eine Krawatte hätten?

Ebenso stilistisch versiert wie stets aus der Mode: Titanic

 Warum, Internet?

Täglich ermöglichst Du Meldungen wie diese: »›Problematisch‹: Autofahrern droht Spritpreis-Hammer – ADAC beobachtet Teuer-Trend« (infranken.de).

Warum greifst Du da nicht ein? Du kennst doch jene Unsichtbar-Hand, die alles zum Kapitalismus-Besten regelt? Du weißt doch selbst davon zu berichten, dass Millionen Auto-Süchtige mit Dauer-Brummbrumm in ihren Monster-Karren Städte und Länder terrorisieren und zum Klima-Garaus beitragen? Und eine Lobby-Organisation für Immer-Mehr-Verbrauch Höher-Preise erst verursacht?

Wo genau ist eigentlich das Verständlich-Problem?

Rätselt Deine alte Skeptisch-Tante Titanic

 Prophetisch, »Antenne Thüringen«?

Oder wie sollen wir den Song verstehen, den Du direkt nach der von Dir live übertragenen Diskussion zwischen Mario Voigt und Björn Höcke eingespielt hast? Zwar hat der Thüringer CDU-Fraktionschef Höckes Angebot einer Zusammenarbeit nach der Wahl ausgeschlagen. Aber es wettet ja so manche/r darauf, dass die Union je nach Wahlergebnis doch noch machthungrig einknickt. Du jedenfalls lässt im Anschluss den Musiker Cyril mit seinem Remake des Siebziger-Lieds »Stumblin’ in« zu Wort kommen: »Our love is alive / I’ve fallen for you / Whatever you do / Cause, baby, you’ve shown me so many things that I never knew / Whatever it takes / Baby, I’ll do it for you / Whatever you need / Baby, you got it from me.« Wenn das nicht mal eine Hymne auf eine blau-schwarze Koalition ist!

Hätte sich dann doch eher »Highway to Hell« gewünscht: Titanic

 Eher unglaubwürdig, »dpa«,

erschien uns zunächst Deine Meldung, Volker Wissing habe nach dem tödlichen Busunglück auf der A9 bei Leipzig »den Opfern und Hinterbliebenen sein Beileid ausgesprochen«. Andererseits: Wer könnte die Verstorbenen auf ihrem Weg ins Jenseits noch erreichen, wenn nicht der Bundesverkehrsminister?

Tippt aufs Flugtaxi: Titanic

Vom Fachmann für Kenner

 Dual Use

Seit ich meine In-Ear-Kopfhörer zugleich zum Musikhören und als Wattestäbchen verwende, stört es mich gar nicht mehr, wenn beim Herausnehmen der Ohrstöpsel in der Bahn getrocknete Schmalzbröckelchen rauspurzeln.

Ingo Krämer

 Die wahre Strafe

Verhaftet zu werden und in der Folge einen Telefonanruf tätigen zu müssen.

Fabio Kühnemuth

 In Würde altern

Früher hätte mich der riesige Pickel mitten auf meinem Hals stark gestört. Heute trage ich den wohl niedlichsten ausgeprägten Adamsapfel, den die Welt je gesehen hat, mit großem Stolz ein paar Tage vor mir her.

Ronnie Zumbühl

 Immerhin

Für mich das einzig Tröstliche an komplexen und schwer zugänglichen Themen wie etwa Quantenmechanik, Theodizee oder den Hilbertschen Problemen: Letztlich ist das alles keine Raketenwissenschaft.

Michael Ziegelwagner

 Nicht lustig, bloß komisch

Während ich früher schon ein kleines bisschen stolz darauf war, aus einer Nation zu stammen, die mit Loriot und Heinz Erhardt wahre Zen-Meister der Selbstironie hervorgebracht hat, hinterfrage ich meine humoristische Herkunft aufgrund diverser Alltagserfahrungen jetzt immer öfter mit Gedanken wie diesem: Möchte ich den Rest meines Lebens wirklich in einem Land verbringen, in dem man während seiner Mittagspause in ein Café geht, das vor der Tür vollmundig mit »leckerem Hunde-Eis« wirbt, und auf seine Bestellung »Zwei Kugeln Labrador und eine Kugel Schnauzer« statt des fest eingeplanten Lachers ein »RAUS HIER!« entgegengebrüllt bekommt?

Patric Hemgesberg

Vermischtes

Erweitern

Das schreiben die anderen

Titanic unterwegs
07.05.2024 Köln, Stadthalle Martin Sonneborn mit Sibylle Berg
07.05.2024 Frankfurt am Main, Club Voltaire »TITANIC-Peak-Preview« mit Kathrin Hartmann
08.05.2024 Wiesbaden, Schlachthof Martin Sonneborn mit Sibylle Berg
09.05.2024 Zürich, Friedhof Forum Thomas Gsella