Humorkritik | November 2021

November 2021

»Die erste Satire wurde gewiss aus Rache gemacht. Sie zur Besserung seines Nebenmenschen gegen die Laster und nicht gegen den Lasterhaften zu gebrauchen, ist schon ein geleckter, abgekühlter, zahm gemachter Gedanke.«
Georg Chr. Lichtenberg

Die fröhliche Wissenschaft

Auf jeder Seite von Mithu Sanyals vielbesprochenem, vielgelobtem und auf der Shortlist zum Deutschen Buchpreis gelandeten Roman »Identitti« (Hanser) »kann man mindestens dreimal laut lachen«, jedenfalls laut FAZ. Das macht bei 432 Seiten mindestens 1300 laute Lacher, und das sind allerdings 1299 mehr, als Ihrem alten Mentz entwichen sind. Der die Geschichte um die schwarze Düsseldorfer Professorin der Postkolonialstudien, die eigentlich weiß ist, und ihre Vorzugsstudentin Nivedita, Identitätsbloggerin mit polnischer Mutter und indischem Vater, aber auch nach einem Drittel beiseitegelegt hat.

Denn auch diesmal ist gut gemeint das schiere Gegenteil von gut gemacht, wiewohl der collagistische Einfall, sich die fiktionale Twitter-Erregung von Realpersonen spenden zu lassen, für den evtl. einzigen (und allerdings externen) Witz gut ist: »Patrick Bahners @Pbahners Friedrich Rückert notiert, dass August Wilhelm Schlegel eine indische Legende in deutsche Hexameter übersetzen konnte, ›ohne den Vorwurf der Travestirung zu befürchten‹. Für die gegenläufige Poetisierung eines akademischen Lebenslaufs wünscht man sich analoge Nachsicht.« Erfreuliche, formal glänzende Selbstironie, die aber auch den Abstand markiert zum flott populärbelletristischen Erzählton, der das hohe Informationsaufkommen des »Crashkurses in Identitätspolitik« (D. Scheck) lenken soll, aber so gut wie kein Eigenleben entwickelt: Hier wird, wenn ich einen Gedanken Walter Benjamins aufgreifen darf, alles bloß durch die Sprache mitgeteilt, aber nichts in ihr. »Identität ist eine notwendige Lüge«: inhaltlich unterschreibe ich das gern, aber warum soll ich darum einen ganzen dicken Roman lesen, in dem ständige Stegreifvorträge, allzu gängige Coming-of-Identity-Probleme und Lektoratsversäumnisse wie »die Erde barst auf« die raren Stellen, die gleichwie versehentlich von Poesie wissen, erdrücken?

Sanyal ist promovierte Kulturwissenschaftlerin und war mal Nivedita, und das müsste nichts machen, wenn man nur öfter den Eindruck hätte, hier geschehe mehr als das, was geschieht. Ein Einfall, schrieb Hebbel mal, sei noch keine Idee, und praktisch alles in »Identitti« bleibt im Einfall stecken, den lustigen Roman zur Debatte zu schreiben. Aber dazu ist Sanyal wohl zu nahe dran; nicht als »Betroffene«, bewahre, sondern als Frau vom Fach. Kunst ist Abstand, Komik auch, und wenn beider Feind »das Identische« (Adorno) ist, gehört die FAZ mindestens einmal an den Ohren gezogen.

  

Aktuelle Startcartoons

Heftrubriken

Briefe an die Leser

 Wieso so eilig, Achim Frenz?

Wieso so eilig, Achim Frenz?

Kaum hast Du das Zepter im Kampf um die Weltherrschaft der Komischen Kunst auf Erden in jüngere Hände gelegt, da schwingst Du Dich nach so kurzer Zeit schon wieder auf, um in den höchsten Sphären für Deine Caricatura zu streiten.

Mögest Du Dir auch im Jenseits Dein beharrliches Herausgeber-Grummeln bewahren, wünscht Dir zum Abschied Deine Titanic

 Gude, Fregatte »Hessen«!

Du verteidigst Deutschlands Demokratie zur Zeit im Roten Meer, indem Du Handelsrouten vor der Huthi-Miliz schützt. Und hast schon ganz heldenhaft zwei Huthi-Drohnen besiegt.

Allerdings hast Du auch aus Versehen auf eine US-Drohne geschossen, und nur einem technischen Fehler ist es zu verdanken, dass Du nicht getroffen hast. Vielleicht ein guter Grund für die USA, doch nicht auf der Erfüllung des Zwei-Prozent-Ziels zu beharren!

Doppelwumms von Titanic

 Vielleicht, Ministerpräsident Markus Söder,

sollten Sie noch einmal gründlich über Ihren Plan nachdenken, eine Magnetschwebebahn in Nürnberg zu bauen.

Sie und wir wissen, dass niemand dieses vermeintliche High-Tech-Wunder zwischen Messe und Krankenhaus braucht. Außer eben Ihre Spezln bei der Baufirma, die das Ding entwickelt und Ihnen schmackhaft gemacht haben, auf dass wieder einmal Millionen an Steuergeld in den privaten Taschen der CSU-Kamarilla verschwinden.

Ihr Argument für das Projekt lautet: »Was in China läuft, kann bei uns nicht verkehrt sein, was die Infrastruktur betrifft.« Aber, Söder, sind Sie sicher, dass Sie wollen, dass es in Deutschland wie in China läuft? Sie wissen schon, dass es dort mal passieren kann, dass Politiker/innen, denen Korruption vorgeworfen wird, plötzlich aus der Öffentlichkeit verschwinden?

Gibt zu bedenken: Titanic

 Dear Weltgeist,

das hast Du hübsch und humorvoll eingerichtet, wie Du an der Uni Jena Deiner dortigen Erfindung gedenkst! Und auch des Verhältnisses von Herr und Knecht, über das Hegel ebenfalls ungefähr zur Zeit Deiner Entstehung sinnierte. Denn was machst Du um die 200 Jahre später, lieber Weltgeist? Richtest an Deiner Alma Mater ein Master-Service-Zentrum ein. Coole Socke!

Meisterhafte Grüße von Deiner Titanic

 Genau einen Tag, Husqvarna Group (Stockholm),

nachdem das ungarische Parlament dem Nato-Beitritt Schwedens zugestimmt hatte, mussten wir was auf heise.de lesen? Dass auf Deinen Rasenmähern der »Forest & Garden Division« nach einem Software-Update nun der alte Egoshooter »Doom« gespielt werden kann!

Anders gesagt: Deine Divisionen marodieren ab sofort nicht nur lautstark mit Rasenmähern, Traktoren, Motorsägen, Motorsensen, Trennschleifern, Rasentrimmern, Laubbläsern und Vertikutierern durch unsere Gärten, sondern zusätzlich mit Sturmgewehren, Raketenwerfern und Granaten.

Falls das eine Demonstration der Stärke des neuen Bündnispartners sein soll, na schön. Aber bitte liefere schnell ein weiteres Software-Update mit einer funktionierenden Freund-Feind-Erkennung nach!

Hisst die weiße Fahne: Titanic

Vom Fachmann für Kenner

 Einmal und nie wieder

Kugelfisch wurde falsch zubereitet. Das war definitiv meine letzte Bestellung.

Fabian Lichter

 Frühlingsgefühle

Wenn am Himmel Vögel flattern,
wenn in Parks Familien schnattern,
wenn Paare sich mit Zunge küssen,
weil sie das im Frühling müssen,
wenn überall Narzissen blühen,
selbst Zyniker vor Frohsinn glühen,
Schwalben »Coco Jamboo« singen
und Senioren Seilchen springen,
sehne ich mich derbst
nach Herbst.

Ella Carina Werner

 Überraschung

Avocados sind auch nur Ü-Eier für Erwachsene.

Loreen Bauer

 Die Touri-Falle

Beim Schlendern durchs Kölner Zentrum entdeckte ich neulich an einem Drehständer den offenbar letzten Schrei in rheinischen Souvenirläden: schwarzweiße Frühstücks-Platzmatten mit laminierten Fotos der nach zahllosen Luftangriffen in Schutt und Asche liegenden Domstadt. Auch mein Hirn wurde augenblicklich mit Fragen bombardiert. Wer ist bitte schön so morbid, dass er sich vom Anblick in den Fluss kollabierter Brücken, qualmender Kirchenruinen und pulverisierter Wohnviertel einen morgendlichen Frischekick erhofft? Wer will 365 Mal im Jahr bei Caffè Latte und Croissants an die Schrecken des Zweiten Weltkriegs erinnert werden und nimmt die abwischbaren Zeitzeugen dafür sogar noch mit in den Urlaub? Um die Bahn nicht zu verpassen, sah ich mich genötigt, die Grübelei zu verschieben, und ließ mir kurzerhand alle zehn Motive zum Vorteilspreis von nur 300 Euro einpacken. Seitdem starre ich jeden Tag wie gebannt auf das dem Erdboden gleichgemachte Köln, während ich mein Müsli in mich hineinschaufle und dabei das unheimliche Gefühl nicht loswerde, ich würde krachend auf Trümmern herumkauen. Das Rätsel um die Zielgruppe bleibt indes weiter ungelöst. Auf die Frage »Welcher dämliche Idiot kauft sich so eine Scheiße?« habe ich nämlich immer noch keine Antwort gefunden.

Patric Hemgesberg

 Man spürt das

Zum ersten Mal in meinem Leben war ich in New York. Was soll ich sagen: Da war sofort dieses Gefühl, als ich zum ersten Mal die 5th Avenue hinunterflanierte! Entweder man spürt das in New York oder man spürt es eben nicht. Bei mir war sie gleich da, die Gewissheit, dass diese Stadt einfach null Charme hat. Da kann ich genauso gut zu Hause in Frankfurt-Höchst bleiben.

Leo Riegel

Vermischtes

Erweitern

Das schreiben die anderen

Titanic unterwegs
24.04.2024 Trier, Tuchfabrik Max Goldt
25.04.2024 Köln, Comedia Max Goldt
27.04.2024 Schwerin, Zenit Martin Sonneborn mit Sibylle Berg
28.04.2024 Lübeck, Kolosseum Martin Sonneborn mit Sibylle Berg