Humorkritik | Januar 2020

Januar 2020

Vielleicht ist aber auch der Witzeerzähler im Tiefsten Ordnungsmensch, denn nur so kann er den Witz als etwas Außergewöhnliches begreifen, das die Norm überschreitet. Der Geistlose merkt nicht mal, wo die Norm wäre.
Ruedi Widmer

Ratet, wer zu loben ist

Ich werde nicht müde, Philipp Tingler zu loben, und zwar deswegen, weil er etwas kann, was den wenigsten deutschsprachigen Romanautoren gegeben ist: Er amüsiert mich.

Ja, Tingler amüsiert mich so flächendeckend und finster entschlossen, wie es seit P.G. Wodehouse kaum ein Autor getan hat. So gut wie jede Beschreibung, jede Bemerkung, jede Wendung eines Dialogs zielt auf Originalität und Pointe. Tinglers Dialogqualität übertrifft stellenweise gar Wodehouses, was vor allem damit zu tun hat, dass er sich nicht die Mühe macht, wie dieser auf einen komplizierten Plot hinzuarbeiten.

In Tinglers neuestem Roman (Kein & Aber) wird der Überraschungsgast bereits im Titel avisiert: »Rate, wer zum Essen bleibt«. Wobei die Referenz auf den ernsthafteren Stanley-Kramer-Film (»Guess Who’s Coming to Dinner«) eher irreführend ist. Bei Tingler ist es Conni, eine alte Studienfreundin des Hausherrn, die der Hausherrin doppelt den Appetit verdirbt, indem sie die beiden Arbeitsessen, die Ouvertüre und Finale des handlungsarmen Romans bilden, durch starke Verbalinjurien und einen Schwächeanfall zerstört. Geladen ist zunächst der Dekan, in dessen Fakultät die Gastgeberin eine Professur anstrebt, und zum andern der Vorsitzende des Stiftungsrats, der diese Professur vergibt, jeweils mit Gattin. Und die Gattinnen sind es auch, die sich im Dickicht der eigenen Binsenweisheiten verirren, bevor diese von Connis machetenscharfer Zunge gestutzt werden. Ähnlich wie bei Wodehouse ist es schwierig, Tinglers Dialogwitz durch einzelne Zitate zu belegen, da die Binnenpointen erst im Gewebe Muster bilden und Struktur gewinnen. Deswegen zitiere ich bloß die letzten beiden Sätze des bürgerlichen Heldenpaares. Der Ehemann macht seiner Frau ein konventionelles Kompliment (»Du bist das Beste, was mir passieren konnte«), das sie gekonnt kontert (»Dann kommst du zu wenig vor die Tür«). Ansonsten kann ich nur an das Vorstellungsvermögen jener appellieren, die wie ich amerikanische Screwballfilme der 30er- und 40er-Jahre zu schätzen wissen. Genauso wie Tingler untergraben deren Autoren das gerade gültige gesellschaftliche Regelwerk, ohne am Ende die Explosion auszulösen, in der Erkenntnis, dass ja nur allgemein anerkannte Regeln garantieren, dass sie zu brechen weiterhin Spaß macht. Philipp Tingler hält Billy Wilder völlig zu Recht für einen der größten Dramatiker des 20. Jahrhunderts; warum er selbst noch nicht im Filmgeschäft ist, bleibt mir ein Rätsel. Die deutsche Komödie könnte einen Drehbuchautor wie ihn wohl brauchen.

  

Aktuelle Startcartoons

Heftrubriken

Briefe an die Leser

 Ach, Scheuer-Andi,

wie der Spiegel meldet, wird niemand für Sie in den Bundestag nachrücken. Da scheinen die Fußstapfen wohl einfach zu groß zu sein.

Die Besten gehen immer zu früh …

Weiß Titanic

 Gute Frage, liebe »Süddeutsche«!

»Warum haben wir so viele Dinge und horten ständig weiter? Und wie wird man diese Gier wieder los?« teast Du Dein Magazin an, dasselbe, das einzig und allein als werbefreundliches Vierfarb-Umfeld für teuren Schnickschnack da ist.

Aber löblich, dass Du dieses für Dich ja heißeste aller Eisen anpackst und im Heft empfiehlst: »Man kann dem Kaufimpuls besser widerstehen, wenn man einen Schritt zurücktritt und sich fragt: Wer will, dass ich das haben will?«

Und das weiß niemand besser als Du und die Impulskundschaft von Titanic

 Helen Fares, c/o »SWR« (bitte nachsenden)!

Sie waren Moderatorin des Digital-Formats MixTalk und sind es nun nicht mehr, nachdem Sie ein launiges kleines Video veröffentlicht haben, in dem Sie zum Boykott israelischer Produkte aufriefen, mit Hilfe einer eigens dafür programmierten App, die zielsicher anzeigt, wo es in deutschen Supermärkten noch immer verjudet zugeht (Eigenwerbung: »Hier kannst Du sehen, ob das Produkt in Deiner Hand das Töten von Kindern in Palästina unterstützt oder nicht«).

Nach Ihrem Rauswurf verteidigten Sie sich in einem weiteren Video auf Instagram: »Wir sind nicht antisemitisch, weil wir es boykottieren, Produkte von Unternehmen zu kaufen, die Israel unterstützen. Ein Land, das sich vor dem Internationalen Gerichtshof wegen Genozid verantworten muss, weil es Zehntausende von Menschen abgeschlachtet hat.« Da sich aber auch Deutschland vor dem Internationalen Gerichtshof wegen Beihilfe zum Genozid verantworten muss, war Ihre Kündigung beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk ja ohnehin einvernehmlich, oder?

Kann es sich nicht anders vorstellen: Titanic

 Ah, »Galileo«!

Über die Arbeit von Türsteher/innen berichtest Du: »Viele Frauen arbeiten sogar als Türsteherinnen«. Wir setzen noch einen drauf und behaupten: In dieser Branche sogar alle!

Schmeißen diese Erkenntnis einfach mal raus:

Deine Pointen-Bouncer von Titanic

 Hello, Grant Shapps (britischer Verteidigungsminister)!

Eine düstere Zukunft haben Sie in einem Gastbeitrag für den Telegraph zum 75jährigen Bestehen der Nato skizziert. Sie sehen eine neue Vorkriegszeit gekommen, da sich derzeit Mächte wie China, Russland, Iran und Nordkorea verbündeten, um die westlichen Demokratien zu schwächen. Dagegen hülfen lediglich eine Stärkung des Militärbündnisses, die weitere Unterstützung der Ukraine und Investitionen in Rüstungsgüter und Munition. Eindringlich mahnten Sie: »Wir können uns nicht erlauben, Russisch Roulette mit unserer Zukunft zu spielen.«

Wir möchten aber zu bedenken geben, dass es beim Russisch Roulette umso besser fürs eigene Wohlergehen ist, je weniger Munition im Spiel ist und Patronen sich in der Trommel befinden.

Den Revolver überhaupt vom eigenen Kopf fernhalten, empfehlen Ihre Croupiers von der Titanic

Vom Fachmann für Kenner

 Nicht lustig, bloß komisch

Während ich früher schon ein kleines bisschen stolz darauf war, aus einer Nation zu stammen, die mit Loriot und Heinz Erhardt wahre Zen-Meister der Selbstironie hervorgebracht hat, hinterfrage ich meine humoristische Herkunft aufgrund diverser Alltagserfahrungen jetzt immer öfter mit Gedanken wie diesem: Möchte ich den Rest meines Lebens wirklich in einem Land verbringen, in dem man während seiner Mittagspause in ein Café geht, das vor der Tür vollmundig mit »leckerem Hunde-Eis« wirbt, und auf seine Bestellung »Zwei Kugeln Labrador und eine Kugel Schnauzer« statt des fest eingeplanten Lachers ein »RAUS HIER!« entgegengebrüllt bekommt?

Patric Hemgesberg

 Konsequent

Die Welt steckt in der Spermakrise. Anzahl und Qualität der wuseligen Eileiter-Flitzer nehmen rapide ab. Schon in wenigen Jahren könnten Männer ihre Zeugungsfähigkeit vollständig verlieren. Grund hierfür sind die Verkaufsschlager aus den Laboren westlicher Großkonzerne. Diese Produkte machen den Schädling platt, das Plastik weich und das Braterlebnis fettfrei und wundersam. Erfunden wurden diese chemischen Erfolgsverbindungen von – Überraschung – Y-Chromosom-Trägern. Toll, dass sich Männer am Ende doch an der Empfängnisverhütung beteiligen.

Teresa Habild

 Altersspezifisch

Ich gehöre noch zu einer Generation, deren Sätze zu häufig mit »Ich gehöre noch zu einer Generation« anfangen.

Andreas Maier

 Die wahre Strafe

Verhaftet zu werden und in der Folge einen Telefonanruf tätigen zu müssen.

Fabio Kühnemuth

 Vom Feeling her

Es hat keinen Sinn, vor seinen Gefühlen wegzulaufen. Man muss sich schon auch mal hinter einem Baum verstecken und warten, dass die das nicht merken und an einem vorbeiziehen, sonst bringt das ja alles nichts.

Loreen Bauer

Vermischtes

Erweitern

Das schreiben die anderen

Titanic unterwegs
28.04.2024 Lübeck, Kolosseum Martin Sonneborn mit Sibylle Berg
29.04.2024 Berlin, Berliner Ensemble Martin Sonneborn mit Sibylle Berg
30.04.2024 Hamburg, Kampnagel Martin Sonneborn mit Sibylle Berg
30.04.2024 Hannover, TAK Ella Carina Werner