Humorkritik | Januar 2018
Januar 2018
Mein Vater hat sehr viel über sich selbst gelacht und meine Mutter wiederum sehr viel über meinen Vater.
Ivette Löcker

Neue seltsame Doubletten
»Wenn ich meine Sexualität spüre, sollte ich essen, meinte die Mutter. Am liebsten hätte ich ihr geantwortet: Leider kann ich nicht in einen Apfelkuchen hineinvögeln, aber natürlich habe ich nichts gesagt.« Die Stelle, die ich beim Wiederlesen von Wilhelm Genazinos »Falsche Jahre« (1979) gefunden habe, erstaunt. Findet sich doch hier ein Nexus aus Penetrationswunsch und Apfelkuchen (»American pie«) wieder, der zentraler und populärkulturell viel wirksamer in einer amerikanischen Sexkomödie aus dem Jahr 1999 vorkommt (»American Pie«). Wie ging das zu? Frappierende Fetischähnlichkeit von Frankfurter Angestellten und US-Teenagern? Gemeinsames Christenerbe, der Apfelkuchen als kulturell verfeinerte, sublimiert-versüßte Version des berühmten Apfels aus der Paradieserzählung? Obwohl dieser Apfel im Alten Testament bekanntlich gar nicht namentlich Erwähnung findet, sondern nur als »Frucht« auftritt und somit wahlweise auch Zitrone, Zwetschge oder Kokosnuß hätte sein können? Oder war es schlicht so, daß der amerikanische Drehbuchautor Adam (!) Herz in seiner Jugend Genazino gelesen hat (dessen »Falsche Jahre« aber anscheinend gar nicht übersetzt worden sind – während hingegen »Ein Regenschirm für diesen Tag« auf englisch recht drollig mit »The shoe tester of Frankfurt« betitelt ist)?
Doch es kommt noch rätseliger.
Der Cartoonist Leonard Riegel, zu betrachten u.a. in dieser meiner Zeitschrift, schwört, niemals den »Anton Reiser« des Karl Philipp Moritz gelesen zu haben. Was aber steht dort nun wieder geschrieben? »Überhaupt pflegte Anton in seiner Kindheit durch den Klang der eigenen Namen von Personen oder Städten zu sonderbaren Bildern und Vorstellungen von den dadurch bezeichneten Gegenständen veranlaßt zu werden. Die Höhe oder Tiefe der Vokale in einem solchen Namen trug zur Bestimmung des Bildes das meiste bei. So klang der Name der Stadt Hannover beständig prächtig in seinem Ohre, und ehe er es sahe, war es ihm ein Ort mit hohen Häusern und Türmen und von einem hellen und lichten Ansehen. Braunschweig schien ihm länglicht, von dunklerm Ansehen und größer zu sein.« Verblüffend ähnlich geht es bei Riegel zu: »Einmal träumte ich von Braunschweig«, heißt es da über einer seiner Zeichnungen (vgl. Titanic 06/10), man erblickt einen Schlafenden, in dessen Traumvorstellung die unbekannte Stadt von fontänesprühenden Elefanten, nacktbusigen Frauen und einem Zeppelin bevölkert wird: »Als ich dann hinfuhr, war ich enttäuscht.« Denn das echte Braunschweig – man sieht es bei Riegel – ist natürlich viel langweiliger als das geträumte. In den Worten des »Anton Reiser«: »Sie kamen durch viele enge Gassen, vor dem Schlosse vorbei und endlich über eine lange Brücke in eine etwas dunkle Straße«, kurz: im Falle Braunschweig »täuschte ihn seine Namensdeutung sehr«. Weil aber zwischen Karl Philipp Moritz und Leo Riegel nicht zwanzig Jahre liegen wie in der verwandten Causa Genazino / »American Pie«, sondern mehr als zweihundert, dürfen Sie, liebe Leserin, lieber Leser, über diesen zweiten Fall von künstlerischer Telepathie noch sehr viel kräftiger staunen als über den ersten. Lösen werden wir sie leider beide nicht.