Humorkritik | November 2017

November 2017

Das Lachen verlangt Arglosigkeit, die meisten Menschen lachen aber am häufigsten boshaft.
Fjodor Dostojewski

Sondermänner

So gut wie gleichzeitig hat mir der Zufall zwei dicke Romane beschert, die von strammen Sonderlingen handeln: Der eine Ziegel ist, glauben wir der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung«, der »komischste deutsche Roman dieses Herbstes«, der andere ein Debüt, das die traurige Lebensgeschichte eines Genies, genauer: frühkindlich auf Höchstintelligenz Gedrillten ausmalt. Beide Sonderlinge – der eine als Schelmenfigur grob fiktiv, den anderen gab es wirklich – sagen immer die Wahrheit, aus Einfalt der eine, aus dem Gegenteil der andere. Beide sind auf ihre Weise frühreif: Der Schelm nimmt als DDR-Waisenkind den Kommunismus beim Wort und möchte im Lokal nicht bezahlen, das Genie studiert mit elf in Harvard. Der Schelm glaubt an den Sozialismus, an Jesus Christus und, als es mit der DDR vorbei ist, ans Eigentum als Verpflichtung, das Genie landet als Kommunist im Gefängnis und glaubt an den freien Geist. Das Genie weigert sich darum, seine Fähigkeiten in den Dienst einer (US-amerikanischen) Gesellschaft zu stellen, die den Geist lieber vernutzen als befreien will, und geht, arm und einsam, zugrunde; dem Schelm fällt das Geld fuderweise vor die Füße, doch will er es bloß los sein.

Komisch ist Ingo Schulzes »Peter Holtz. Sein glückliches Leben, erzählt von ihm selbst« (S. Fischer) freilich nur, wenn man des Schelmenhelden Kinderglauben an die Gesellschaft der Freien und Gleichen für sowieso lächerlich hält und die Pointe geringschätzt, daß Holtz, der noch als Millionär nicht von der Überzeugung läßt, eine Gesellschaft dürfe nicht am Geld scheitern, am Schluß sein Geld im Wortsinn verbrennt. Zum Lachen ist der Roman also dann, wenn man ihn lieber nicht begreifen will, denn »Peter Holtz« tut nur sehr vordergründig das, was von einem ausdrücklich so genannten »Schelmenroman« mit Ostbezug zu erwarten wäre, und die DDR-Erzählung um die üblichen Fiesheiten und Absurditäten ist eher ein Trojanisches Pferd, das die Absurditäten und Fiesheiten neuerer Zeit im Bauch trägt. So daß der wahre Schelm der USPDler Ingo Schulze ist und komisch eher der zeitgemäß kurze Sprung des Feuilletons, den Herz-Jesu-Kommunisten Holtz als »reinen Tor« (FAZ) und »Holzkopf« (SZ) abzutun. Das ist er nicht.

Unterhalb dieser Meta-Ebene komisch dagegen ist Klaus Cäsar Zehrers eleganter biographischer Roman »Das Genie« (Diogenes), der auf Anhieb in einer Liga mit, sagen wir, John Irving spielt, auch wenn sich die Pointen aus dem immer selben Witz ergeben, daß nämlich eins der Wunderkinder, die ja zuletzt zum Idealziel von Bildungsbemühung geworden sind, alle auflaufen läßt, und der Sonderling nicht anders kann, als sein Sonderlingsein voll auszuspielen. Da Zehrer, Herausgeber von zwei Anthologien zur Neuen Frankfurter Schule, seinem sturen Helden ebenso stur durch die Jahre folgt, hat mich sein vielleicht konventionelles, aber farbiges und detailsattes Buch über William James Sidis (1898–1944), dessen Intelligenzquotient bei bis zu 300 gelegen haben soll, gegen Ende zwar ermüdet; aber weglegen wollte ich’s darum noch lange nicht. Hut ab.

  

Aktuelle Startcartoons

Heftrubriken

Briefe an die Leser

 Augen auf, »dpa«!

»Mehrere der Hausangestellten konnten weder Lesen noch Schreiben« – jaja, mag schon sein. Aber wenn’s die Nachrichtenagenturen auch nicht können?

Kann beides: Titanic

 Moment, Edin Hasanović!

Sie spielen demnächst einen in Frankfurt tätigen »Tatort«-Kommissar, der mit sogenannten Cold Cases befasst ist, und freuen sich auf die Rolle: »Polizeiliche Ermittlungen in alten, bisher ungeklärten Kriminalfällen, die eine Relevanz für das Jetzt und Heute haben, wieder aufzunehmen, finde ich faszinierend«, sagten Sie laut Pressemeldung des HR. Ihnen ist schon klar, »Kommissar« Hasanović, dass Sie keinerlei Ermittlungen aufzunehmen, sondern bloß Drehbuchsätze aufzusagen haben, und dass das einzige reale Verbrechen in diesem Zusammenhang Ihre »Schauspielerei« sein wird?

An Open-and-shut-case, urteilt Titanic

 Ach, welt.de!

Die Firma Samyang stellt offenbar recht pikante Instant-Ramen her. So pikant, dass Dänemark diese jetzt wegen Gesundheitsbedenken vom Markt genommen hat. Und was machst Du? Statt wie gewohnt gegen Verbotskultur und Ernährungsdiktatur zu hetzen, denunzierst Du Samyang beim Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit, wo Du fast schon hämisch nachfragst, ob das Produkt vielleicht auch hierzulande verboten werden könne.

Das Amt sekundiert dann auch sogleich bei der Chilifeindlichkeit und zählt als angebliche »Vergiftungssymptome« auf: »brennendes Gefühl im (oberen) Magen-Darm-Trakt, Sodbrennen, Reflux bis hin zu Übelkeit, Erbrechen und Schmerzen im Bauch- und Brustraum. Bei hohen Aufnahmemengen können zudem Kreislaufbeschwerden auftreten – beispielsweise Kaltschweißigkeit, Blutdruckveränderungen und Schwindel«. Hallo? Neun von zehn dieser »Nebenwirkungen« sind doch der erwünschte Effekt einer ordentlich scharfen Suppe! Erbrechen müssen wir höchstens bei so viel Hetze!

Feurig grüßt Titanic

 Diese Steilvorlage, Kristina Dunz (»Redaktionsnetzwerk Deutschland«),

wollten Sie nicht liegenlassen. Die Fußballnation hatte sich gerade mit der EM-Viertelfinalniederlage gegen Spanien angefreundet, der verlorene Titel schien durch kollektive Berauschtheit an der eigenen vermeintlich weltoffenen Gastgeberleistung sowie durch die Aussicht auf vier Jahre passiv-aggressives Gemecker über die selbstverständlich indiskutable Schiedsrichterleistung (»Klarer Handelfmeter!«) mehr als wiedergutgemacht, da wussten Sie einen draufzusetzen. Denn wie es Trainer Julian Nagelsmann verstanden habe, »eine sowohl fußballerisch als auch mental starke National-Elf zu bilden«, die »zupackt und verbindet«, hinter der sich »Menschen versammeln« können und der auch »ausländische Fans Respekt zollen«, und zwar »auf Deutsch« – das traf genau die richtige Mischung aus von sich selbst berauschter Pseudobescheidenheit und nationaler Erlösungsfantasie, die eigentlich bei bundespräsidialen Gratulationsreden fällig wird, auf die wir dank des Ausscheidens der Mannschaft aber sonst hätten verzichten müssen.

Versammelt sich lieber vorm Tresen als hinter elf Deppen: Titanic

 Wenn, Sepp Müller (CDU),

Bundeskanzler Olaf Scholz, wie Sie ihm vorwerfen, in einem »Paralleluniversum« lebt – wer hat dann seinen Platz in den Bundestagsdebatten, den Haushaltsstreitgesprächen der Ampelkoalition, beim ZDF-Sommerinterview usw. eingenommen?

Fragt die Fringe-Division der Titanic

Vom Fachmann für Kenner

 Unübliche Gentrifizierung

Zu Beginn war ich sehr irritiert, als mich der Vermieter kurz vor meinem Auszug aufforderte, die Bohr- und Dübellöcher in den Wänden auf keinen Fall zu füllen bzw. zu schließen. Erst recht, als er mich zusätzlich darum bat, weitere Löcher zu bohren. Spätestens, als ein paar Tage darauf Handwerkerinnen begannen, kiloweise Holzschnitzel und Tannenzapfen auf meinen Böden zu verteilen, wurde mir jedoch klar: Aus meiner Wohnung wird ein Insektenhotel!

Ronnie Zumbühl

 Der kästnerlesende Kniebeuger

Es gibt nichts Gutes
Außer man Glutes.

Sebastian Maschuw

 Reifeprozess

Musste feststellen, dass ich zum einen langsam vergesslich werde und mir zum anderen Gedanken über die Endlichkeit allen Lebens mache. Vor meiner Abreise in den Urlaub vergaß ich zum Beispiel, dass noch Bananen in meiner Obstschale liegen, und dann dachte ich zwei Wochen darüber nach, wie lange es wohl dauert, bis die Nachbarn wegen des Geruchs und der Fliegen aus meiner Wohnung die Kripo alarmieren.

Loreen Bauer

 Krasse Segregation

Wer bestimmten Gruppen zugehört, wird auf dem Wohnungsmarkt strukturell diskriminiert. Viele Alleinstehende suchen händeringend nach einer Drei- oder Vierzimmerwohnung, müssen aber feststellen: Für sie ist dieses Land ein gnadenloser Apartmentstaat, vor allem in den Großstädten!

Mark-Stefan Tietze

 Guesslighting

Um meine Seelenruhe ist es schlecht bestellt, seit mich ein erschütternder Bericht darüber informierte, dass in Hessen bei Kontrollen 70 Prozent der Gastronomiebetriebe widerlichste Hygienemängel aufweisen (s. Leo Riegel in TITANIC 07/2022). Neben allerhand Schimmel, Schleim und Schmodder herrscht allüberall ein ernsthaftes Schadnagerproblem, die Küchen sind mit Mäusekot nicht nur kontaminiert, sondern praktisch flächendeckend ausgekleidet. Vor lauter Ekel hab ich sofort Herpes bekommen. Nun gehe ich vorhin in meine Küche, und auf der Arbeitsplatte liegen grob geschätzt 30 kleine schwarze Kügelchen. Ich bin sofort komplett ausgerastet! Zehn hysterische Minuten hat es gedauert, bis mir klar wurde, dass der vermeintliche Kot die Samen eines dekorativen Zierlauchs waren, der einen Blumenstrauß krönte, den eine liebe Freundin mir geschenkt hat. Ich hätte ihn einfach nicht noch einmal anschneiden sollen … Hysterie off, Scham on.

Martina Werner

Vermischtes

Erweitern

Das schreiben die anderen

Titanic unterwegs
03.08.2024 Kassel, Caricatura-Galerie Miriam Wurster: »Schrei mich bitte nicht so an!«
04.08.2024 Frankfurt/M., Museum für Komische Kunst Die Dünen der Dänen – Das Neueste von Hans Traxler
04.08.2024 Frankfurt/M., Museum für Komische Kunst »F. W. Bernstein – Postkarten vom ICH«
09.08.2024 Bremen, Logbuch Miriam Wurster