Humorkritik | November 2017

November 2017

Das Lachen verlangt Arglosigkeit, die meisten Menschen lachen aber am häufigsten boshaft.
Fjodor Dostojewski

Sammelt Brennesseln!

Vor hundert Jahren, im November 1917, wurde Rußland sozialistisch und verwandelte sich nach und nach in die Sowjetunion. Deren Einwohner hatten zuletzt eine durchschnittliche Lebenserwartung von 69 Jahren, und insofern hatte das rote Reich sein statistisches Soll sogar übererfüllt, als es am 25.12.1991 den letzten Schnaufer tat. Das Paradies der Werktätigen verschwand im schwarzen Loch der Geschichte, machte der Hölle der kapitalistischen Gegenwart Platz und – doch halt! So sehr eine machtlos gewordene Vergangenheit zur Ironie, ach was, Nostalgie einlädt: Die Schönheitsflecken des realen Sozialismus waren ja schon im Alltag unübersehbar.

Die Massen arm, die Sitten rauh, die Parteibürokraten beschränkt, aber heftig besserwisserisch: So zeichnen z.B. die Humoresken eines Michail Sostschenko ein Bild von stinkender Enge und Not, in der sich die Sowjetmenschen mit List und Tücke behaupteten; erträglich wurde die Realität, weil zu kleinen Kunstwerken geformt, deren Witz auch vom Kontrast zwischen dem schmutzigen Kleingeist der Durchschnittsbürger und dem sonnigen Anspruch der Parteipropaganda lebt. Dabei war Sostschenko kein Oppositioneller, Stalin bewahre! Noch weniger war es Andrej Platonow, dessen Lebensinhalt als Ingenieur wie als Schriftsteller der Aufbau des Sozialismus war. Er haderte mit seiner es nur gut meinenden Partei nicht minder als mit der doofen Menschennatur. In seinem Roman »Die Baugrube« von 1930 (von Gabriele Leupold neu übersetzt bei Suhrkamp) geht es um die heroische Errichtung eines monumentalen Wohnhauses für das gesamte örtliche Proletariat – als Vorstufe zu einem noch gewaltigeren, ja megababylonischen Werk, denn »in zehn oder zwanzig Jahren wird ein anderer Ingenieur in der Mitte der Welt einen Turm bauen, in dem sich zur lebenslangen glücklichen Ansiedlung die Werktätigen des gesamten Erdballs niederlassen werden.«

Ohne Organisation geht so etwas nicht, aber mit Organisation geht es natürlich noch viel weniger. Die Arbeiter sind in ihrem revolutionären Eifer übermotiviert wie jener Aktivist, der sein Fuhrwerk mit Butter schmiert, damit sie nicht in den Mägen der Bourgeoisie landet, und die Funktionäre drehen am Rad und rufen die Volksmassen zum Sammeln von Brennesseln auf, weil die Brennessel im Ausland begehrte Mangelware sei. Verrückter als die Romanfiktion ist da nur die Realität, die sich in jener Losung spiegelt, die die Woronescher Zeitung »Kommune« am 10.11.1929 in vollem Ernst ausgab: »Tang aus Teichen und Seen – in die Papierfabriken! Die in Teichen und Seen schlafenden Millionen müssen geweckt werden!«

Von Stalins Herrschaft muß es Platonow geschwant haben, wenn er einen Genossen träumen läßt, die UdSSR von den Abermillionen Feinden des Sozialismus, also von Egoisten und bourgeoisem Natterngezücht zu säubern und nur die unschuldigen Proletarierkinder übrigzulassen. »Die Baugrube« sollte wahrscheinlich eine Warnung sein, keine den heutigen Apologeten des Kapitalismus und anderem Natterngezücht gefällige Abrechnung. Ebenso wahrscheinlich fand Platonow den Kontrast zwischen Ideologie und Realität nicht zum Lachen; die bourgeoise Natter Hans Mentz aber, zugegeben, schon.

  

Aktuelle Startcartoons

Heftrubriken

Briefe an die Leser

 Hoffentlich klappt’s, Künstlerin Marina Abramović (77)!

Sie wollen gern mindestens 103 Jahre alt werden. Alt zu sein sei in der Kultur des Balkans, im Gegensatz zu der Nordamerikas, etwas Großartiges. Sie seien »neugierig wie eine Fünfjährige« und wollen noch schwarze Löcher und Außerirdische sehen.

Wir wollen auch, dass Sie Außerirdische sehen bzw. dass die Außerirdischen Sie sehen, Abramović. Wenn Sie die Extraterrestrischen, die, wie wir aus diversen Blockbuster-Filmen wissen, nichts Gutes im Schilde führen, mit einer Ihrer verstörenden Performances voll Nacktheit, Grenzüberschreitung und Selbstgefährdung begrüßen, wenden sie sich vielleicht doch von uns ab.

Kommt stets in Frieden: Titanic

 U sure, Jürgen Klopp?

U sure, Jürgen Klopp?

Nachdem Sie Ihren Posten beim FC Liverpool niedergelegt haben, halten Sie sich in Sachen Zukunftspläne bedeckt. Nur so viel: »Ich werde irgendwas arbeiten. Ich bin zu jung, um nur noch Padel-Tennis und Enkelkinder zu machen.«

Keine Ahnung, wie Sie sich den typischen Alltag im Ruhestand so vorstellen, Kloppo. Doch wenn Menschen fortgeschrittenen Alters Nachwuchs zeugen, heißt das Ergebnis – zumindest in den meisten Fällen – »Kinder« und nicht »Enkelkinder«.

Schwant Böses: Titanic

 Heda, »FAZ«

»Schlechte Politik verhindert Fortschritt« – das stimmt. Aber ist das nicht haargenau die Politik, für die Du immer trommelst?

Fragt schlecht und recht Titanic

 Mmmmmh, Iglo-Freibad-Pommes!

Ihr seid ein neues Tiefkühlprodukt, das in diesem Sommer vom grassierenden Retro- und Nostalgietrend profitieren möchte. Daher seid Ihr derzeit auf den großen Plakatwänden im Stadtbild vertreten, und zwar garniert mit dem knusprigen Claim: »Das schmeckt nach hitzefrei«.

Aber schmeckt Ihr, wenn wir uns recht erinnern, nicht ebenfalls nach einem kräftigen Hauch von Chlor, nach einem tüchtigen Spritzer Sonnenmilch und vor allem: nach den Gehwegplatten aus Beton und der vertrockneten Liegewiese, auf welchen Ihr regelmäßig zu Matsch getreten werdet?

In jedem Fall bleibt es Euch weiterhin verboten, vom Beckenrand zu springen, schimpft Eure Bademeisterin  Titanic

 Genau so war es, lieber »Tagesspiegel«!

»Die Trauer um die Mauertoten erinnert uns daran, was es bedeutet, Hoffnung, Mut und letztlich das eigene Leben für ein Leben in Freiheit zu opfern«, mahnst Du am Jahrestag des Mauerbaus. Ja, wer kennt sie nicht, die ganzen Menschen, die die Hoffnung auf ein besseres Leben und den Mut, ihr Leben zu riskieren, längst aufgegeben haben, um dann an der Mauer zu sterben, wiederaufzuerstehen und ein gutes Leben im freien Westen zu führen? Mögen sie und Deine Formulierungsgabe in Frieden ruhen, Tagesspiegel!

Herzliches Beileid schickt Titanic

Vom Fachmann für Kenner

 Schierlingsbücher

Kaum jemand erinnert sich an das allererste selbstgelesene Buch. War es »Wo die wilden Kerle wohnen« oder doch Grimms Märchen? Schade, denke ich mir. Es könnte eine Wegmarke in die wunderbare Welt der Bibliophilie sein. In meiner Erinnerung wabert stattdessen leider nur ein unförmiger Brei aus Pixibüchern. Diesen Fehler möchte ich am Ende meines Leselebens nicht noch einmal machen. Und habe mir das Buch »Essbare Wildpflanzen« bestellt.

Teresa Habild

 Treehuggers

Bei aller Liebe zum Veganismus: Plant Parenthood geht mir zu weit.

Sebastian Maschuw

 Abschied

Juckeljuckeljuckel,
Das Meer liegt hinterm Buckel,
Dort vorne, da ist Dover,
Da ist die Reise over.

Gunnar Homann

 Hä?

Demenz kennt kein Alter.

Moppel Wehnemann

 Steinzeitmythen

Fred Feuerstein hat nie im Steinbruch gearbeitet, er war Rhetoriker! Er hat vor 10 000 Jahren zum Beispiel den Whataboutism erfunden und zu seiner Losung erhoben: »Ja, aber … aber du!«

Alexander Grupe

Vermischtes

Erweitern

Das schreiben die anderen

  • 29.08.:

    Die FR erwähnt den "Björnout"-Startcartoon vom 28.08.

  • 27.08.: Bernd Eilert schreibt in der FAZ über den französischen Maler Marcel Bascoulard.
  • 27.03.:

    Bernd Eilert denkt in der FAZ über Satire gestern und heute nach.

  • 29.01.:

    Ein Nachruf auf Anna Poth von Christian Y. Schmidt im ND.

  • 13.04.:

    HR2 Kultur über eine TITANIC-Lesung mit Katinka Buddenkotte im Club Voltaire.

Titanic unterwegs
10.09.2024 Frankfurt am Main, Club Voltaire »TITANIC-Peak-Preview« mit Stargast Miriam Wurster
13.09.2024 Stade, Schwedenspeicher Ella Carina Werner
14.09.2024 Frankfurt, Museum für Komische Kunst Bernd Pfarr: »Knochenzart«
16.09.2024 Wiedensahl, Wilhelm-Busch-Geburtshaus Hilke Raddatz mit Tillmann Prüfer