Humorkritik | November 2007

November 2007

Bayard? Mills!

Vorderhand fällt Pierre Bayards Buch »Wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat« (Kunstmann) nicht ins ­komische oder Humorfach und also nicht in mein Ressort, denn Bayard ist ein topseriöser ­Pariser Literaturprofessor und Psychoanalytiker, und was man von solchen Kame­raden zu halten hat, weiß man ja spätestens seit dem aus Frankreich in den achtziger Jahren eingeschleppten sog. Poststrukturalismus, der gegenüber Witz und Ironie bis dato vermutlich resistentesten aller zwei Millionen geistes­wissenschaftlichen ­Moden der Menschheitsgeschichte. Aber der allgemeine Wirbel um Bayards offenbar ungeheuer revolutionäres und anti­autoritäres und damit potentiell wieder eher komiknahes Traktat ließ mich dann doch hineinschauen und die zweihundertzwanzig ­Seiten schließlich – nein, kein Scherz – komplett weglesen.

 

Das Buch hat nämlich seine Meriten. Als hoher Herr Professor pausenlos »Bücher zu kommentieren, die ich in den meisten Fällen gar nicht aufgeschlagen habe«, das empört den einen oder anderen deutschen Bildungsspießer und Oberstudienrat sicher auch heute noch auf erfreuliche Weise. Der weitenteils auf den Säulen der Ehrfurcht und Einschüchterung aufsattelnden Großkultur des Lesens und Interpretierens, diesem oft schlicht verblasen-verlogenen, heuchel-beutelschneiderischen »Zwangs­system aus Pflichten und Verboten« die Luft rauszu­lassen – item das leuchtet mir ein. Und dort, wo Bayard der »allgemeinen Schein­heiligkeit« des Kanonwesens und der ridikülen Bescheidwisserei durch eine leichter Hand skizzierte Typologie des Nichtlesens und gleichwohl eleganten Urteilens über Nichtgelesenes den Boden entzieht, mußte ich ab und an sogar lachen.

 

Insbesondere Bayards Würdigung des rotzfrechen »Meisters im Nichtlesen« Paul Valéry will ich recht rühmen. Valéry hatte 1927 in der Académie Française die Nachfolge des verstorbenen Anatole France angetreten und ihn, ohne je ein einziges ­literarisches Wort von France zur Kenntnis genommen zu haben, in einer Rede, die ­Bayard ausführlich zitiert, derart hinter­fotzig belobigt, daß ich mir angesichts all der espritsatten Schamlosigkeiten und subtilen Invektiven vor Freude fast einen in meiner Bibliothek vergammelnden France-Roman zur Brust genommen hätte. »Einer solchen Dichte an unterschwelligen Beleidigungen begegnet man nicht jeden Tag«, kann auch Bayard sein Vergnügen nicht verhehlen, und ein paar Seiten später resümiert er den Casus mit der nicht minder plau­siblen, nonsensartigen Begründung, Valérys Lek­türeverfahren sei völlig stimmig, weil es auf einem »fundierten Begriff von Literatur« beruhe, »dessen einer Hauptgedanke sagt, daß nicht nur der Autor, sondern auch das Werk überflüssig ist«.

 

Allein – der Clou von Bayards barrikadenstürmerischem Buch, das wird halt ­leider allzu rasch klar, ist kein begrüßenswert ruchloses Plädoyer für Paul Feyerabendschen Relativismus, für eine fröhlich randa­lierende (Literatur-)Wissenschaft, sondern die altlahme Aufforderung, sich nicht vom »repressiven Bild einer lückenlosen Bildung« beeindrucken zu lassen und statt dessen »in sich selbst die Kraft« zu finden, »seine eigenen Text zu schaffen und zum Schriftsteller zu werden«.

 

Dann kann man ja Tagebuch schreiben.

 

Lesen wollte jedenfalls ich die von ­Bayard ­inaugurierte Selbstbezüglichkeitsskribenteneierei keinesfalls. Im Gegenteil: Wenn ich denn lese, möcht’ ich – was der Psychoanalytiker Bayard nie verstehen wird – durchaus lieber nicht »mit mir ins Gespräch treten«, sondern, au contraire, Urlaub vom ramenternden Ich machen.

 

Für welche angenehm entlastende »Erfah­rung« (Bayard) die komische Literatur der nach wie vor beste Garant ist. Weshalb ich den nicht mehr ganz aktuellen, vierten ­Roman von Magnus Mills, »Ganze Arbeit« (Suhrkamp), empfehle. Der ist abermals nahe­zu genial, den muß man lesen. Allez!

  

Aktuelle Startcartoons

Heftrubriken

Briefe an die Leser

 Vielleicht, Ministerpräsident Markus Söder,

sollten Sie noch einmal gründlich über Ihren Plan nachdenken, eine Magnetschwebebahn in Nürnberg zu bauen.

Sie und wir wissen, dass niemand dieses vermeintliche High-Tech-Wunder zwischen Messe und Krankenhaus braucht. Außer eben Ihre Spezln bei der Baufirma, die das Ding entwickelt und Ihnen schmackhaft gemacht haben, auf dass wieder einmal Millionen an Steuergeld in den privaten Taschen der CSU-Kamarilla verschwinden.

Ihr Argument für das Projekt lautet: »Was in China läuft, kann bei uns nicht verkehrt sein, was die Infrastruktur betrifft.« Aber, Söder, sind Sie sicher, dass Sie wollen, dass es in Deutschland wie in China läuft? Sie wissen schon, dass es dort mal passieren kann, dass Politiker/innen, denen Korruption vorgeworfen wird, plötzlich aus der Öffentlichkeit verschwinden?

Gibt zu bedenken: Titanic

 Sie, Victoria Beckham,

Sie, Victoria Beckham,

behaupteten in der Netflix-Doku »Beckham«, Sie seien »working class« aufgewachsen. Auf die Frage Ihres Ehemanns, mit welchem Auto Sie zur Schule gefahren worden seien, gaben Sie nach einigem Herumdrucksen zu, es habe sich um einen Rolls-Royce gehandelt. Nun verkaufen Sie T-Shirts mit dem Aufdruck »My Dad had a Rolls-Royce« für um die 130 Euro und werden für Ihre Selbstironie gelobt. Wir persönlich fänden es sogar noch mutiger und erfrischender, wenn Sie augenzwinkernd Shirts mit der Aufschrift »My Husband was the Ambassador for the World Cup in Qatar« anbieten würden, um den Kritiker/innen so richtig den Wind aus den Segeln zu nehmen.

In der Selbstkritik ausschließlich ironisch: Titanic

 Anpfiff, Max Eberl!

Sie sind seit Anfang März neuer Sportvorstand des FC Bayern München und treten als solcher in die Fußstapfen heikler Personen wie Matthias Sammer. Bei der Pressekonferenz zu Ihrer Vorstellung bekundeten Sie, dass Sie sich vor allem auf die Vertragsgespräche mit den Spielern freuten, aber auch einfach darauf, »die Jungs kennenzulernen«, »Denn genau das ist Fußball. Fußball ist Kommunikation miteinander, ist ein Stück weit, das hört sich jetzt vielleicht pathetisch an, aber es ist Liebe miteinander! Wir müssen alle was gemeinsam aufbauen, wo wir alle in diesem gleichen Boot sitzen.«

Und dieser schräge Liebesschwur, Herr Eberl, hat uns sogleich ungemein beruhigt und für Sie eingenommen, denn wer derart selbstverständlich heucheln, lügen und die Metaphern verdrehen kann, dass sich die Torpfosten biegen, ist im Vorstand der Bayern genau richtig.

Von Anfang an verliebt für immer: Titanic

 Dear Weltgeist,

das hast Du hübsch und humorvoll eingerichtet, wie Du an der Uni Jena Deiner dortigen Erfindung gedenkst! Und auch des Verhältnisses von Herr und Knecht, über das Hegel ebenfalls ungefähr zur Zeit Deiner Entstehung sinnierte. Denn was machst Du um die 200 Jahre später, lieber Weltgeist? Richtest an Deiner Alma Mater ein Master-Service-Zentrum ein. Coole Socke!

Meisterhafte Grüße von Deiner Titanic

 Wieso so eilig, Achim Frenz?

Wieso so eilig, Achim Frenz?

Kaum hast Du das Zepter im Kampf um die Weltherrschaft der Komischen Kunst auf Erden in jüngere Hände gelegt, da schwingst Du Dich nach so kurzer Zeit schon wieder auf, um in den höchsten Sphären für Deine Caricatura zu streiten.

Mögest Du Dir auch im Jenseits Dein beharrliches Herausgeber-Grummeln bewahren, wünscht Dir zum Abschied Deine Titanic

Vom Fachmann für Kenner

 Nichts aufm Kerbholz

Dass »jemanden Lügen strafen« eine doch sehr antiquierte Redewendung ist, wurde mir spätestens bewusst, als mir die Suchmaschine mitteilte, dass »lügen grundsätzlich nicht strafbar« sei.

Ronnie Zumbühl

 Kehrwoche kompakt

Beim Frühjahrsputz verfahre ich gemäß dem Motto »quick and dirty«.

Michael Höfler

 Wenn beim Delegieren

schon wieder was schiefgeht, bin ich mit meinen Lakaien am Ende.

Fabio Kühnemuth

 Man spürt das

Zum ersten Mal in meinem Leben war ich in New York. Was soll ich sagen: Da war sofort dieses Gefühl, als ich zum ersten Mal die 5th Avenue hinunterflanierte! Entweder man spürt das in New York oder man spürt es eben nicht. Bei mir war sie gleich da, die Gewissheit, dass diese Stadt einfach null Charme hat. Da kann ich genauso gut zu Hause in Frankfurt-Höchst bleiben.

Leo Riegel

 Teigiger Selfcaretipp

Wenn du etwas wirklich liebst, lass es gehen. Zum Beispiel dich selbst.

Sebastian Maschuw

Vermischtes

Erweitern

Das schreiben die anderen

Titanic unterwegs
19.04.2024 Wuppertal, Börse Hauck & Bauer
20.04.2024 Eberswalde, Märchenvilla Max Goldt
20.04.2024 Itzehoe, Lauschbar Ella Carina Werner
24.04.2024 Trier, Tuchfabrik Max Goldt