Humorkritik | September 2006
September 2006

Gronius’ »Junior«
Geteiltes Leid ist halbes Leid, sagt ein Sprichwort, dem ich widersprechen möchte, denn ich habe mich einmal mit der vielfach literaturpreisgekrönten Vergangenheitsbewältigungslyrik südosteuropäischer Dissidenten befaßt und gespürt, wie das mir mitgeteilte Leid sich bei der Lektüre verdoppelte und verachtfachte.
Mit dem Talent, am eigenen Leib erfahrenes Leid beim Teilen nicht nur zu halbieren, sondern es ganz und gar in Kunstschönheit aufzulösen und ihm dabei auch noch komische Effekte abzugewinnen, hat der liebe Gott keinen einzigen mir bekannten sorbischen Dichter beschenkt, aber dafür um so reicher den in Berlin aufgewachsenen Wahl-Hannoveraner Jörg W. Gronius. In seinem Roman »Ein Stück Malheur« hat er nüchtern und höchst komisch die Tristesse einer Nachkriegskindheit im Berliner Kleinstbürgermilieu geschildert, in einem staubtrockenen, glasklaren Protokollstil. Mit Ausnahme der FAZ hat sich die Literaturkritik vor diesem großen, im Kleinverlag Weidle erschienenen Roman unsterblich blamiert, teils durch Ablehnung und größtenteils durch Schweigen: Weidle Verlag? Kennen wir nicht, interessiert uns nicht.
Auch Gronius’ jüngster Roman »Der Junior«, der die ferneren Abenteuer jenes Stücks Malheur erzählt, ist von den dusseligen Multiplikatoren, deren Pflicht es gewesen wäre, Gronius zu preisen und seinen Ruhm zu mehren, schnöde übergangen worden. Mir hat dieses Sequel extrem gut gefallen: Da wächst ein Rebell heran, der sich in einem aussichtslosen Zweifrontenkrieg gegen seine strohdummen Eltern und alle Greuel der Pubertät behaupten muß, während ringsumher Studenten für die Diktatur des Proletariats auf die Barrikaden steigen. Das macht dem Junior angst: »Die Vorstellung, daß die Arbeiter, die ich auf den Baustellen sah oder die morgens in die Fabrik gingen und abends in den Eckkneipen Bier und Schnaps tranken, an die Macht kommen sollten, war beklemmend«, erzählt er, und er legt ein gutes Wort für seinen überdrehten Jugendfreund Spindler ein, der sich als revolutionärer Künstler in den Klassenkampf verirrt hat und sich doch »nach einem ganz normalen Leben« sehnt, »ohne Revolution, ohne Arbeiter, höchstens mit einem bißchen Surrealismus und einem Mädchen zum Küssen. A Love Supreme.«
Auf diese schlichte und schöne poetische Wunschformel lassen sich wahrscheinlich nahezu alle Parolen der 68er, bei Licht betrachtet, herunterrechnen. Schafft zwei, drei, viele Vietnams? Von wegen: Ein bißchen Surrealismus und ein Mädchen zum Küssen hätte den meisten Apo-Opas vollkommen genügt, auch wenn sie sich das bis heute nicht zu sagen trauen. Gronius hat sich getraut, und wenn ich mich nicht irre, hat er damit eine Lebensweisheit ausgesprochen, die weit über 1968 und 2006 hinaus gültig bleiben und eines Tages hoffentlich auch in das Orang-Utan-Gehege der islamischen Weltverneiner durchdringen wird.