Inhalt der Printausgabe
Juli 2001
Die gerngelesene Geschichte Herr Tötenses am Abgrund (Seite 5 von 5) |
Der 4. Juli war ein heißer, in Duisburg also schwüler Freitag. Stumm trugen hustend graue Ruhrgebietler das leere Elend ihrer Welt spazieren, veritable Bieresel in Rippenhemd und Trainingsbuchse, Frauen so trist und abbruchreif wie die umgebenden Nachkriegsstraßenschluchten, Kinder ohne Farbe, Leuchten, Perspektive - ein einziger Sauhaufen, Ärgernis und skandalon zugleich. Marios's Eis-Caffè lief über. Wäre eine Bombe draufgefallen, sie hätte Tote getötet, wandelnde Leichen, Duisburger eben, und doch: An einem Fenstertisch saß äußerst feingemacht und aufgeräumt Herr Tötenses in schwarzem Anzug und Pomade, pfriemelte am güldnen Schlips und las ein letztes Mal im Haffmans-Büchlein "Flirten kann jeder! Das A und O der ›gepflegten‹ Anmache." Dann polterten sie herein. "Buäähhh!" - "Nee, Üschken, Appelschorle krisse nich! Hier is dein Fläschken! Und die Jacke läßte an, kapiert?! Verdammter Scheiß, getz hör ma mit dat Schreien auf!! Bleib von die Blumen wech! Üschken, getz is abber Schluß! Gutn Tach! Is hier noch frei oder wat?!" "Bitte, selbstverständlich, gern." Tötenses flötete. "Ich habe Sie erwartet. Nun aber gleich in medias res: Welches Sternzeichen haben die Dame?" "Krebs, hahaha!" schrie die Kohlenstaubwanze und gab der Tochter prophylaktisch eins aufs Maul, "du Wichser! Der Arzt gibt mich noch vier Wochen; Üschken! Hiergeblieben!" Ein zweiter linker Haken. "Buäähhh!"… "Ich mag Sie", flüsterte jetzt Tötenses und beugte sich vor. "Und das soll keine billige Anmache sein. Grüner Tee gefällig? Seltsam… Sie erinnern mich an jemanden. Aus dem Zauberberg? Nein, warten Sie - Ulysses…" Verstohlen blickte Tötenses zur Straße. Zeitgleich kamen Bus und Bahn. Noch zwei Minuten… Er nahm das Buch und reckte sich: "Ohne dich will ich nicht leben, / komm, laß uns den Weinkrug heben! / Ei, du schönste aller Frauen / magst mir heut' mein Herze klauen. / Schönste aller Nofreteten: / Dein Gemach will ich betreten! / Will mich ganz in dir verlieren, / zweidrei Stellungen probieren - wie? Was? Okay, genug der Poesie. Darf ich fragen, wie Sie heißen? Darf ich in Ihr Öhrchen beißen?" "Ober! Polizei!" Siegessicher las er weiter: "Schöne Fee, o efeuranke! / Darf ich mit dir poppen? Danke. / Ei, wir gehen ins Gebüschken, / und dann zeigst du mir dein Müsch… - apropos: Wo steckt eigentlich Üschken? Sie wird doch nicht…hihi… pardon, auf die Straße …?" "Ja stimmt! Heilige Scheiße! Üschken!" "Darf ich mich vorstellen, Reimund Tötenses…" "Himmels willen, wo is dat Kind?! Üschken!" "Tötenses." Er lugte aus dem Fenster. Zwanzig Meter war der Bus entfernt. "Tötenses!" Beide rannten simultan zur Tür und schrien aus Leibeskräften: "Üschken!!" "Tötenses!!" Ampeln wurden rot. Bremsen quietschten. Schreiend flog die Schlampe auf die Straße, umrundete den Bus, sah unter ihn. Fahrgäste stiegen aus, zwei Tauben stoben. Zeternd schrie die Mutterkuh, still saugte Tötenses an einer Halfzware, ging zurück zum Tisch und grinste grimmig. Es war, o Gott, gelungen, war vollbracht. Laut tauchte freilich Üschken auf: in der Cafétoilettentür und quietschfidel. "Buäähhh! Mama! Apfelschorle!" Da, endlich, floß es naß heraus aus Tötenses. Lief kurvig über seine Wange und versank im Bier: ein altes Tränchen halb aus Schmerz und Glück. Sie lebt, erkannte Tötenses, sie lebt, wie schön, nichts wird sich je mehr ändern, um so besser. Sein Handywecker piepste. Beim Hinausgehen stieß er mit der Angeflirteten zusammen. "Bis morgen." Am selben Abend, bei windigem, gewittrigem Wetter, saß er mit Gattin Janette vorm Bettchen von Joy, Jangis, Jay, John und Janette. Er schien ganz vernünftig, sprach mit den Leuten. Er tat alles, wie es die andern taten; es war aber eine entsetzliche Überforderung in ihm, er fühlte keinen Zorn mehr, keinerlei Tötungsabsicht, und die fünf Namen konnte er auch nicht behalten. - So lebte er hin. Thomas Gsella
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