Inhalt der Printausgabe
TITANIC URLAUB spezial
8848 Meter Fun
Das Abenteuer Everest im Selbstversuch
Die Everestbesteigung gilt Bergsportlern bis heute als Königsdisziplin. War es einst ein lebensgefährliches Abenteuer für einige wenige, zieht es im Zeitalter des Massentourismus immer wieder Reisegruppen aus der ganzen Welt an und auf den Achttausender. Doch ist das noch Bergsteigen? Unter der Leitung von Kraxel-Urgestein Reinhold Messner wage ich einen Gipfelaufstieg ganz im Stile der alten Garde: keine modernen Hilfsmittel, kein neumodischer Schnickschnack, kein hipper Firlefanz! Nur ich, der Berg und mein Smartphone.
Unser Autor: Jan
Reiseblogger seit 2013, aufgewachsen in El Arenal und München-Schwabing, von 1997 bis 2012 Studium der Medienwissenschaften in Lloret de Mar, Chefdesigner des Kalenders »1999 – Die zwölf bekanntesten Plätze Hannovers«.
TAG 1 Ankunft Der Trip beginnt. Ich stehe am Fuß des höchsten Berges der Erde. Ein rauher, kalter Wind gleitet den Berg hinab. Messner, mein Guide (auf neudeutsch: »Führer«), gilt als Himalaya-Legende, Vater des Bergsteigens und unzähliger Kinder und ist Inhaber des beliebtesten Barber-Shops in ganz Nepal. Noch einmal will er es wissen. »Der Everest, das ist heute eine andere Welt«, erklärt er mir. Nichts sei mehr wie früher. »Die Menschen haben den Respekt vor dem Berg verloren!« grummelt er durch seinen Bart. In seinem Kopf sei aber alles noch genauso wie vor hundert Jahren, und das wolle er mir nun zeigen. Messner hat mehr Erfahrung als jeder andere am Berg, hat die meisten Routen selbst geplant. Ich entscheide mich für den Premium-Wanderweg, der bis hinauf auf den Gipfel führt, denn von dort oben soll man eine grandiose Aussicht haben. Bereits auf den ersten Metern meine ich zu verstehen, was Messner mit »Respekt vor dem Berg« meint. Der Everest, das ist auch heute noch kein Spaziergang. Gutes Schuhwerk ist hier Pflicht! Es gilt: Lieber ein paar Euro mehr investiert, als am Ende mit Blasen an den Füßen die Schmach der vorzeitigen Rückreise durchleben zu müssen.
TAG 5 Erste Schritte Die ersten Abschnitte sind absolviert, die ersten Nächte unter widrigsten Bedingungen (Hostels mit Achtbettzimmern, einmal gar mit grölendem Abiturjahrgang nebenan) überstanden. Unser grobes Gepäck tragen die sogenannten Sherpas, eine Unterart des Lamas, wie Messner mir erklärt. Das einzige Hilfsmittel auf dem Weg nach oben, das wir uns leisten. Gesprochen wird kaum. Höchste Konzentration verlangt es uns ab, inmitten der zahlreichen Wegweiser nicht plötzlich auf eine falsche Abzweigung zu geraten und am Ende aus Versehen nur den läppischen »Beginners’ Trail«, eine abgespeckte Version unserer Route für Fußlahme, zu wandern. Einzig Messner grunzt, raunt und weint beim Anblick der Souvenirshops immer wieder unverständlich. Ihm scheint es nicht gut zu gehen, vielleicht wird es sein letzter Aufstieg. Ich kaufe mir eine Kappe und ein Yeti-Feuerzeug.
TAG 9 Ewiges Eis Wir überschreiten die Baumgrenze, ab jetzt wächst kein Grashalm mehr. Immer wieder sind an Eisenmangel verendete Veganer im Eis zu erkennen. Messner ißt im Gehen ein Stück rohe Leber.
TAG 14 Höhenkrankheit »Des is wahrscheinlich des G’waltigste, des wo man hier heroben zu Gesicht bekommen kann!« sagt Messner mit großen Augen. Es geht ihm zusehends schlechter. »Ich dachte immer, das gibt es gar nicht wirklich, ja, ich dachte, das sei ein Wesen, das nur im Fernsehen oder auf dubiosen Internetseiten existiert, ein grausames Märchen, aber NEIN!« Messner schüttelt kräftig den Kopf. »Es existiert wirklich!« flüstert er mit gepreßter Stimme, und sein Blick wird dabei noch bohrender als zuvor. Wenn wir es bis morgen zum Sonnenuntergang zu unserer Zwischenstation, dem Camp am Plateau schafften, könnten wir es vielleicht mit eigenen Augen sehen, sagt er mir. Messners Verstand scheint sich mit jedem Meter weiter zu verflüchtigen. Immer wieder beginnt er von »dem Wesen« zu reden und dem »abscheulichen Geheul«, das, wer es einmal gehört hat, sein Leben lang nicht mehr vergessen kann. Betretenes Schweigen.
TAG 15 Ankunft im Camp Eine gigantische Menschenmasse hat sich hier oben versammelt. Die Stimmung ist ausgelassen, trotz eisigem Wind. Messner wirkt verstört. Laute Popmusik schallt aus den überall um uns herum aufgebauten Boxen, Glühwein wird von als Dalmatinern verkleideten Kellnerinnen verteilt. Als ich mir in der Lounge eine erste Stärkung gönne und meine Thermo-Unterhosen waschen lasse, erfahre ich, daß heute abend ein Konzert stattfinden soll. Die Schlagersängerin und Travestiekünstlerin Helene Georg Fischer soll hier auftreten, draußen vor dem Plateau. Plötzlich erstarrt Messner und besteht darauf, aufzubrechen. »Das Wesen« und »das Geheul«, kommt es ihm wieder leise und ehrfürchtig über die Lippen, bevor er schließlich panisch davonläuft und ich ihn den ganzen Abend nicht mehr zu Gesicht bekomme. Um mich zu schonen, verbringe ich den Abend lieber drinnen und wärme mich an der Bar, anstatt draußen vor der Bühne zu bibbern. Heute dann zum ersten Mal unter wirklich schlechtem Schlaf gelitten. Durch das offene Fenster hallen wabernde Bässe und seltsames Geheul durch die Nacht. Ich muß an Messner, draußen in seinem Zelt, denken.
TAG 16 Frust Nichts geht mehr! Habe mir wohl am Buffet in der spärlich ausgerüsteten Zwischenstation eine leichte Fischvergiftung eingefangen. Ich war zu unvorsichtig. Vertreibe mir die Zeit heute mit Netflix und plaudere abends, als es wieder etwas besser geht, ein bißchen mit den Animateuren bei einigen isotonischen Cocktails am Beckenrand. Ich bin enttäuscht, unser Zeitplan verschiebt sich allein meinetwegen. Erste Zweifel machen sich in mir breit: Habe ich mich überschätzt? Habe auch ich den »Respekt vor dem Berg verloren«? Ich verwerfe den Gedanken so schnell es geht und schließe mich der vorbeiziehenden Polonaise an. Den negativen Gefühlen keinen Raum lassen, denke ich mir. Eine stabile Psyche ist hier oben überlebenswichtig!
TAG 27 Keine Schwäche zeigen Die Hälfte der Etappe liegt bereits hinter uns, und die Kräfte lassen spürbar nach. Messner geht wieder voran. Neben uns gleiten im Schlitten eines Suchtrupps mehrere Leichen ins Tal hinab. Ich meine einen Abiturienten aus dem Hostel zu erkennen und muß ein Lächeln unterdrücken. Das muß die Luft sein, denke ich. »Der Berg gibt es und der Berg nimmt es«, erklärt Messner. Ich erzähle offen, daß auch ich in den letzten Tagen zeitweise etwas den Mut und den Glauben an die Expedition verloren habe – Stichwort Fischvergiftung – und werde von Messner hart angegangen. Er habe an den Berg zwei Zehen, seine Jungfräulichkeit und einen Bruder verloren und heule deshalb auch nicht herum wie eine »kloane, depperte Eisprinzessin, zefix«. »Mimimi«, so Messner. »Mimimi!« Abermals betretenes Schweigen.
TAG 34 Abgeschottet Kein Empfang! Das stand aber nirgends! Im stillen bin ich sauer auf Messner, daß er mir das im Tal verschwiegen hat. Behalte das aber für mich, weil ich Messner mittlerweile etwas kenne und weiß, daß er Telefone – wie übrigens auch Unterhosen und das Frauenwahlrecht – für eine »Erfindung des Teufels« hält. Meine Füße bringen mich langsam aber sicher um.
TAG 39 Mensch vs. Natur Wir nähern uns dem Gipfel in immer kleineren Schritten. Die Luft wird dünner, das Rauchen fällt schwerer. Ich überlege sogar in einem Moment der Schwäche, ganz damit aufzuhören. Der Weg wird mit jeder Serpentine beschwerlicher, stellenweise ist es uns nur mit äußerster Kraftanstrengung möglich, uns durch den Müll vorangegangener Reisegruppen zu kämpfen. Wir waten im Schneckentempo durch einen Berg von alten Bionadeflaschen, weggeworfenen Einweggrills, zurückgelassenen Fahrrädern und rostigen Kinderwagen. Der Zustand der Natur ist bisweilen so katastrophal, daß ich beschließe, fortan unseren Müll einfach hierzulassen. Nicht mehr weit …
TAG 45 Dicke Luft Streit mit Messner. Habe mir nach den Strapazen der letzten Tage eine Pediküre samt Massage in einem Salon am Rande der Route gegönnt, um meine Durchblutung wieder etwas in Gang zu bringen. Messner, der Verzweiflung nahe, redet sich immer mehr in Rage, spricht von »Unverschämtheit«, das habe mit Bergsteigen »absolut nichts mehr zu tun«. Ich befürchte, er schämt sich für seine Füße.
TAG 50 Das Wandern ist des Müllers Lust Messner singt traurige Schlagerlieder. Die letzten Meter sind immer die schlimmsten.
TAG 59 Gipfelgaudi Wir sind da! Alle Vorräte sind aufgebraucht, die letzten zehn Kilometer habe ich mich nur noch von Schokoriegeln und Kleinem Feigling aus den am Wegesrand verteilten Kiosken ernährt (an dieser Stelle ein Gruß an Heiko von ›Heikos Gipfel-Büdchen‹: Ohne dich hätte ich es nicht gepackt!). Der Blick von hier oben entschädigt für alles. Die Menschen im Tal sehen aus wie Ameisen! Ich bitte Messner, der sichtlich bewegt und mit Tränen in den Augen vorm Bergrestaurant steht, noch ein Selfie mit mir zu schießen, muß das am Ende aber allein tun, weil er mich ignoriert und in Richtung Abgrund läuft. Währenddessen zieht ein Schneesturm auf und vernebelt die Sicht. Ohne zu überlegen greife ich um mich, packe Messner – den ich nur noch als schemenhafte Gestalt wahrnehme – an seinem bärtigen Kinn und zerre ihn in den Fahrstuhl. Zurück ins Tal! Drinnen erkenne ich ihn kaum wieder. Er ist aggressiv, scheint mir im Flackerlicht des Aufzugs noch behaarter als zuvor und beginnt abscheulich zu jaulen. Nur mit äußerster Mühe und unter Einsatz meiner gesamten Ausrüstung kann ich ihn davon abhalten, mich zu beißen, und mich so vor seinen riesengroßen Pranken retten.
TAG 60 Im Tal Die Nacht im Fahrstuhl war hart und lang. Sehr lang. Messner wurde an der Basisstation mit mehreren Betäubungspfeilen gestoppt, während man mich völlig entkräftet ins Hotel gebracht hat. Armer Mann, ein Aufstieg zuviel, denke ich und nehme mir vor, ihm eine Postkarte ins Krankenhaus zu schicken. Vor lauter Messner bemerke ich erst jetzt, wie auch mein Körper von den Strapazen der letzten Wochen in Mitleidenschaft gezogen worden ist: Ich habe ganze sechs Kilo zugenommen. Doch ich bereue nichts. Danke, Everest, I’ll be back next year! Dann aber gemütlich.
Fabian Lichter