Inhalt der Printausgabe

Juni 2004


Der Lentz ist da
(Seite 4 von 4)

7.
dabei fehlt doch alles: ein Gefühl für die Form, dafür, was geht und was nicht mehr geht, ein grundsätzliches Stilempfinden, das einem halbwegs bei Troste seienden und doch wenigstens erwachsenen Autor verböte, im Jahre 2003 innere Monologe, Bewußtseins- und Assoziationsströme nicht nur zu gebrauchen, was einfältig genug wäre, sondern überdies mit Bernhard, Bahnkritik, primitivem Schwanzgerede und sprachmaterialer Altbäckerei zu verzopfen, ohne eine Spur von Ironie und Grazie, einfach so und frei heraus, weil's so schön nach Entäußerung, Hochmoderne und poète maudit klingt - den literarischen Flurschaden, den Open Mike-Wettbewerbe und Slam Poetry über die Jahre angerichtet haben, könnte bei Gelegenheit auch mal wer untersuchen.
Und wiederum erstaunlich, daß es hundert doch irgendwie belesene Literaturredakteure braucht, damit mal einer darunter ist, der den Trick mit der Wiederholungspoetik durchschaut und diese unerhörten Abgestandenheiten, diesen inspirationsfernsten Secondhandstil, diese unendlich fade Kacke riecht und erkennt, es ist, bei Gott, doch so schwer nicht: ...früher habe ich mal getestet,ob ich dauernd an Sex denke, kam aber auf keinen grünen Zweig, indem ich mich nämlich fragte, "denkst du gerade an Sex", dachte ich natürlich gerade an Sex, weil ich mich ja fragte, ob ich gerade an Sex denke, das Nicht-an-Sex-Denken wurde also nach links und rechts durch die Frage, "denkst du gerade an Sex", unterbrochen, ich weiß auch gar nicht, was das ist, Sex … da prankt Vollmond durchs Fenster, ich möchte Vollmond beschreiben wie noch niemand zuvor, komme aber immer nur bis "Vollmond", es ist dermaßen Vollmond, daß ich schon die Wölfe heulen höre, das Völkerschlachtdenkmal bei Vollmond, dieses in Vollmond getauchte Monster, der Völkerschlachtdenkmalhund, ich würde in die Knie gehen, das wäre ein Lebensschrecken, ein Vollmondvölkerschlachtdenkmal, ein Vollschlachtmondvölkerdenkmal, ein Schlachtmondvölkervolldenkmal, ein Triebstau, ein Vollmondvölkerschlachtdenkmalhund, meine Füße zwei Klumpen Eis, Vollmond ist keine Frage der Altersvorsorge, nein, das ist er zum Glück nicht, dazu braucht's schon ein Vollknallvollmondkalb wie Herrn Michael Lentz, Jahrgang 1964, wohnhaft Berlin, wahrscheinlich Prenzelberg.


8.
Das ist ja auch ein altes Ding, Sätze gegen ihren Urheber zu verwenden; aber einmal darf ich doch auch probieren, wie mir alte Hüte stehen - also: Und soll man seine Zunge hüten? Die manchmal so lose ist, so stolpernd. Die blindlings hinausfällt. Wie oft sage ich mir: Zurückhaltung, Mundhalten, das Maß aller Dinge.


9.
Hier steht der Lentz und kann nicht anders: Ich stehe in diesem Zusammenhang für einen offenen Literaturbegriff zwischen Tradition und Experiment. Beide sind nicht, auch wenn das immer wieder versucht wurde und wird, unabhängig voneinander zu denken. Noch so eine Wahrheit, nur: Wenn Zwischen-Experiment-und-Tradition-Stehen einzig und allein heißt, die Experimente der Tradition stur zu wiederholen, ohne ein bißchen unabhängig oder gar, horribile dictu!, ironisch zu denken: ist das dann gut? Hm?


10.
Hin und wieder, eigentlich sogar recht regelmäßig mache ich mir einen Spaß daraus, mir und dem gleichfalls lose lyrikinteressierten... wie? Derholung? Ledige Hurn, wo? Ende Lug, o wir! Klappehaltenanstrengung. Der Mund ist ein Arschloch. Mitunter.


Stefan Gärtner



    1 | 2 | 3 | 4


Aktuelle Startcartoons

Heftrubriken

Briefe an die Leser

 Prophetisch, »Antenne Thüringen«?

Oder wie sollen wir den Song verstehen, den Du direkt nach der von Dir live übertragenen Diskussion zwischen Mario Voigt und Björn Höcke eingespielt hast? Zwar hat der Thüringer CDU-Fraktionschef Höckes Angebot einer Zusammenarbeit nach der Wahl ausgeschlagen. Aber es wettet ja so manche/r darauf, dass die Union je nach Wahlergebnis doch noch machthungrig einknickt. Du jedenfalls lässt im Anschluss den Musiker Cyril mit seinem Remake des Siebziger-Lieds »Stumblin’ in« zu Wort kommen: »Our love is alive / I’ve fallen for you / Whatever you do / Cause, baby, you’ve shown me so many things that I never knew / Whatever it takes / Baby, I’ll do it for you / Whatever you need / Baby, you got it from me.« Wenn das nicht mal eine Hymne auf eine blau-schwarze Koalition ist!

Hätte sich dann doch eher »Highway to Hell« gewünscht: Titanic

 Rrrrr, Jesus von Nazareth!

Rrrrr, Jesus von Nazareth!

Im andalusischen Sevilla hast Du eine Kontroverse ausgelöst, der Grund: Auf dem Plakat für das Spektakel »Semana Santa« (Karwoche) habest Du zu freizügig ausgesehen, zu erotisch, ja zu hot!

Tja, und wie wir das besagte Motiv anschauen, verschlägt es uns glatt die Sprache. Dieser sehnsüchtige Blick, der kaum bedeckte anmutige Körper! Da können wir nur flehentlich bitten: Jesus, führe uns nicht in Versuchung!

Deine Dir nur schwer widerstehenden Ungläubigen von der Titanic

 Kurze Anmerkung, Benedikt Becker (»Stern«)!

»Wer trägt heute noch gerne Krawatte?« fragten Sie rhetorisch und machten den Rollkragenpullover als neues It-Piece der Liberalen aus, v. a. von Justizminister Marco Buschmann und Finanzminister Christian Lindner, »Was daran liegen mag, dass der Hals auf die Ampelkoalition besonders dick ist. Da hilft so eine Halsbedeckung natürlich, den ganzen Frust zu verbergen.«

Schon. Aber wäre es angesichts des Ärgers der beiden Freien Demokraten über SPD und Grüne nicht passender, wenn sie mal wieder so eine Krawatte hätten?

Ebenso stilistisch versiert wie stets aus der Mode: Titanic

 Hello, Grant Shapps (britischer Verteidigungsminister)!

Eine düstere Zukunft haben Sie in einem Gastbeitrag für den Telegraph zum 75jährigen Bestehen der Nato skizziert. Sie sehen eine neue Vorkriegszeit gekommen, da sich derzeit Mächte wie China, Russland, Iran und Nordkorea verbündeten, um die westlichen Demokratien zu schwächen. Dagegen hülfen lediglich eine Stärkung des Militärbündnisses, die weitere Unterstützung der Ukraine und Investitionen in Rüstungsgüter und Munition. Eindringlich mahnten Sie: »Wir können uns nicht erlauben, Russisch Roulette mit unserer Zukunft zu spielen.«

Wir möchten aber zu bedenken geben, dass es beim Russisch Roulette umso besser fürs eigene Wohlergehen ist, je weniger Munition im Spiel ist und Patronen sich in der Trommel befinden.

Den Revolver überhaupt vom eigenen Kopf fernhalten, empfehlen Ihre Croupiers von der Titanic

 Hej, Gifflar!

Du bist das Zimtgebäck eines schwedischen Backwarenherstellers und möchtest mit einer Plakatkampagne den deutschen Markt aufrollen. Doch so sehr wir es begrüßen, wenn nicht mehr allein Köttbullar, Surströmming und Ikeas Hotdogs die schwedische Küche repräsentieren, so tief bedauern wir, dass Du mit Deinem Slogan alte Klischees reproduzierst: »Eine Schnecke voll Glück«? Willst Du denn für alle Ewigkeiten dem Stereotyp der schwedischen Langsamkeit hinterherkriechen? Als regierten dort immer noch Sozialdemokraten, Volvo und Schwedenpornos?

Damit wirst Du nie der Lieblingssnack der Metropolenjugend!

Sagen Dir Deine Zimt- und Zuckerschnecken von Titanic

Vom Fachmann für Kenner

 Spielregeln

Am Ende einer Mensch-ärgere-dich-nicht-Partie fragt der demente Herr, ob er erst eine Sechs würfeln muss, wenn er zum Klo will.

Miriam Wurster

 Im Institut für Virologie

Jeder Gang macht krank.

Daniel Sibbe

 Konsequent

Die Welt steckt in der Spermakrise. Anzahl und Qualität der wuseligen Eileiter-Flitzer nehmen rapide ab. Schon in wenigen Jahren könnten Männer ihre Zeugungsfähigkeit vollständig verlieren. Grund hierfür sind die Verkaufsschlager aus den Laboren westlicher Großkonzerne. Diese Produkte machen den Schädling platt, das Plastik weich und das Braterlebnis fettfrei und wundersam. Erfunden wurden diese chemischen Erfolgsverbindungen von – Überraschung – Y-Chromosom-Trägern. Toll, dass sich Männer am Ende doch an der Empfängnisverhütung beteiligen.

Teresa Habild

 Frage an die Brutschmarotzer-Ornithologie

Gibt es Kuckucke, die derart hinterhältig sind, dass sie ihre Eier anderen Kuckucken unterjubeln, damit die dann fremde Eier in fremde Nester legen?

Jürgen Miedl

 Altersspezifisch

Ich gehöre noch zu einer Generation, deren Sätze zu häufig mit »Ich gehöre noch zu einer Generation« anfangen.

Andreas Maier

Vermischtes

Erweitern

Das schreiben die anderen

Titanic unterwegs
27.04.2024 Schwerin, Zenit Martin Sonneborn mit Sibylle Berg
28.04.2024 Lübeck, Kolosseum Martin Sonneborn mit Sibylle Berg
29.04.2024 Berlin, Berliner Ensemble Martin Sonneborn mit Sibylle Berg
30.04.2024 Hamburg, Kampnagel Martin Sonneborn mit Sibylle Berg