Inhalt der Printausgabe

Juni 2004


Der Lentz ist da
(Seite 1 von 4)

die dohle ist ein vogel auch
mit einem grauen grauen bauch
der fink ist flink
das wissen wir
und auch der himmel
ist ein Tier

Guten Tag, abspritzen, gute Nacht.
- Michael Lentz


"Die deutsche Literatur hat eine mächtige Stimme hinzugewonnen, von der noch viel zu hören sein wird - und sein soll."
- Thomas Poiss, FAZ

Eine hochkantige Dichtererniedrigung von Stefan Gärtner

 

1.
Hin und wieder, eigentlich sogar recht regelmäßig mache ich mir einen Spaß daraus, mir und dem gleichfalls lose lyrikinteressierten Kollegen Thomas Gsella die je jüngsten Gedichte von der Feuilletontitelseite der Frankfurter Allgemeinen vorzulegen und vorzulesen und hinzureiben zum wiederkehrenden Beweis, wie unschlagbar Hochkultur sein kann, wenn man sie nur läßt:

Michael Lentz
Parnass,

Gipfel,
ganz klar.
George Cram Cook's
Lebenstraum.
Geht dahin, der Cook,
kriecht hinauf,
himmelragender
Gipfel Parnass,
steht oben, schaut sich um,
nimmt
Witterung auf,
empfängt,
:
Ein Traum
ist
absolviert,
George Cram Cook
spricht nun
zu seiner Frau:
"Also komm,
lass uns irgendwohin
gehen und einen trinken."


Dann lachen wir ein bißchen, Gsella und ich, aber ein bißchen traurig sind wir natürlich auch, mit welch formal und inhaltlich simplem Geklimper man heutzutag' und hierzulande zu Ehren und auf Parnässe kommt; ganz klar.


2.
Wenn man nur die richtigen Leute kennt bzw. Fans hat wie den Richard Kämmerlings von eben dem FAZ-Feuilleton, der drei Tage nachdem George Cram Cook nach Traumabsolvierung einen saufen gegangen ist mit dieser schicken Leitglosse vorfährt: "Mensch! Extreme Sprechakte: Michael Lentz vereint die Gegensätze … Ein heimlicher Höhepunkt der letzten Literatursaison ist das knapp einstündige Gespräch, das Lentz mit seinem ebenbürtigen und doch so gegensätzlichen Partner führte - mit Herbert Grönemeyer." Könnte es einen größeren Gegensatz geben? "Könnte es einen größeren Gegensatz geben: Michael Lentz, experimenteller Lyriker, Sprechkünstler und Bachmann-Preisträger, interviewt den massenkompatiblen Rocksänger Grönemeyer ... Und Lentz, mit allen Wassern der Avantgarde gewaschen, biedert sich nicht etwa an, sondern stellt gleich zu Beginn fest, daß er Grönemeyers Texte als Gedichte liest."
O Wunder: Da kommt einer aus dem Avantgarde-Haarstudio, biedert sich nicht an, sondern lobt a tergo drauflos und liest gereimte Verse nicht etwa als Prosa oder RMV-Fahrplan, sondern, potzteufel, als: Gedicht! Als, na eben: lyrics! Das macht jeder junge Mensch, der "The boy with the thorn in his side / behind the hatred there lies / a murderous desire / for love" (Morrissey) in die Schulbank ritzt, natürlich auch, aber der hat höchstens Krach mit Mutti oder ein imaginäres Verhältnis mit Verena aus der 10b und eben keine zweibändige Dissertation "Lautpoesie/-musik nach 1945" in der Bibliographie stehen, wo im Zweifelsfall der "Vorrang der Form vor dem Inhalt" (Kämmerlings) betont und mit Klauen verteidigt wird; als hätte ernstzunehmende Literatur oder Poetik den je angegriffen.
Und Grönemeyer? Kriegt vor Lentzens vorbildlich anbiederungsfreiem und seminarhaftem Rhabarbern über "Benjamins Aura-Begriff", die "besondere ›Verklebung‹ von Stimme und Text in Grönemeyers Gesang" und "Varianten zwischen Booklet und gesungener Version als Differenz von Mündlichkeit und Schriftlichkeit" immerhin und laut Kämmerlings ein "erschrecktes, stirnrunzelndes Lachen" hin.
Eins rauf, Herbert.


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Aktuelle Startcartoons

Heftrubriken

Briefe an die Leser

 Grunz, Pigcasso,

malendes Schwein aus Südafrika! Du warst die erfolgreichste nicht-menschliche Künstlerin der Welt, nun bist Du verendet. Aber tröste Dich: Aus Dir wird neue Kunst entstehen. Oder was glaubst Du, was mit Deinen Borsten geschieht?

Grüße auch an Francis Bacon: Titanic

 Boah ey, Natur!

»Mit der Anpflanzung von Bäumen im großen Stil soll das Klima geschützt werden«, schreibt der Spiegel. »Jetzt zeigen drei Wissenschaftlerinnen in einer Studie: Die Projekte können unter Umständen mehr schaden als nützen.« Konkret sei das Ökosystem Savanne von der Aufforstung bedroht. Mal ganz unverblümt gefragt: Kann es sein, liebe Natur, dass man es Dir einfach nicht recht machen kann? Wir Menschen bemühen uns hier wirklich um Dich, Du Diva, und am Ende ist es doch wieder falsch!

Wird mit Dir einfach nicht grün: Titanic

 Vielleicht, Ministerpräsident Markus Söder,

sollten Sie noch einmal gründlich über Ihren Plan nachdenken, eine Magnetschwebebahn in Nürnberg zu bauen.

Sie und wir wissen, dass niemand dieses vermeintliche High-Tech-Wunder zwischen Messe und Krankenhaus braucht. Außer eben Ihre Spezln bei der Baufirma, die das Ding entwickelt und Ihnen schmackhaft gemacht haben, auf dass wieder einmal Millionen an Steuergeld in den privaten Taschen der CSU-Kamarilla verschwinden.

Ihr Argument für das Projekt lautet: »Was in China läuft, kann bei uns nicht verkehrt sein, was die Infrastruktur betrifft.« Aber, Söder, sind Sie sicher, dass Sie wollen, dass es in Deutschland wie in China läuft? Sie wissen schon, dass es dort mal passieren kann, dass Politiker/innen, denen Korruption vorgeworfen wird, plötzlich aus der Öffentlichkeit verschwinden?

Gibt zu bedenken: Titanic

 Lustiger Zufall, »Tagesspiegel«!

»Bett, Bücher, Bargeld – wie es in der Kreuzberger Wohnung von Ex-RAF-Terroristin Daniela Klette aussah«. Mit dieser Schlagzeile überschreibst Du Deine Homestory aus Berlin. Ha, exakt so sieht es in unseren Wohnungen auch aus! Komm doch gern mal vorbei und schreib drüber. Aber bitte nicht vorher die Polizei vorbeischicken!

Dankend: Titanic

 Und übrigens, Weltgeist …

Adam Driver in der Rolle des Enzo Ferrari – das ist mal wieder großes Kino!

Grazie mille von Titanic

Vom Fachmann für Kenner

 Einmal und nie wieder

Kugelfisch wurde falsch zubereitet. Das war definitiv meine letzte Bestellung.

Fabian Lichter

 Die Touri-Falle

Beim Schlendern durchs Kölner Zentrum entdeckte ich neulich an einem Drehständer den offenbar letzten Schrei in rheinischen Souvenirläden: schwarzweiße Frühstücks-Platzmatten mit laminierten Fotos der nach zahllosen Luftangriffen in Schutt und Asche liegenden Domstadt. Auch mein Hirn wurde augenblicklich mit Fragen bombardiert. Wer ist bitte schön so morbid, dass er sich vom Anblick in den Fluss kollabierter Brücken, qualmender Kirchenruinen und pulverisierter Wohnviertel einen morgendlichen Frischekick erhofft? Wer will 365 Mal im Jahr bei Caffè Latte und Croissants an die Schrecken des Zweiten Weltkriegs erinnert werden und nimmt die abwischbaren Zeitzeugen dafür sogar noch mit in den Urlaub? Um die Bahn nicht zu verpassen, sah ich mich genötigt, die Grübelei zu verschieben, und ließ mir kurzerhand alle zehn Motive zum Vorteilspreis von nur 300 Euro einpacken. Seitdem starre ich jeden Tag wie gebannt auf das dem Erdboden gleichgemachte Köln, während ich mein Müsli in mich hineinschaufle und dabei das unheimliche Gefühl nicht loswerde, ich würde krachend auf Trümmern herumkauen. Das Rätsel um die Zielgruppe bleibt indes weiter ungelöst. Auf die Frage »Welcher dämliche Idiot kauft sich so eine Scheiße?« habe ich nämlich immer noch keine Antwort gefunden.

Patric Hemgesberg

 No pain, no gain

Wem platte Motivationssprüche helfen, der soll mit ihnen glücklich werden. »There ain’t no lift to the top« in meinem Fitnessstudio zu lesen, das sich im ersten Stock befindet und trotzdem nur per Fahrstuhl zu erreichen ist, ist aber wirklich zu viel.

Karl Franz

 Kehrwoche kompakt

Beim Frühjahrsputz verfahre ich gemäß dem Motto »quick and dirty«.

Michael Höfler

 Pendlerpauschale

Meine Fahrt zur Arbeit führt mich täglich an der Frankfurt School of Finance & Management vorbei. Dass ich letztens einen Studenten beim Aussteigen an der dortigen Bushaltestelle mit Blick auf sein I-Phone laut habe fluchen hören: »Scheiße, nur noch 9 Prozent!« hat mich nachdenklich gemacht. Vielleicht wäre meine eigene Zinsstrategie selbst bei angehenden Investmentbankern besser aufgehoben.

Daniel Sibbe

Vermischtes

Erweitern

Das schreiben die anderen

Titanic unterwegs
25.04.2024 Köln, Comedia Max Goldt
27.04.2024 Schwerin, Zenit Martin Sonneborn mit Sibylle Berg
28.04.2024 Lübeck, Kolosseum Martin Sonneborn mit Sibylle Berg
29.04.2024 Berlin, Berliner Ensemble Martin Sonneborn mit Sibylle Berg