Inhalt der Printausgabe

Juni 2004


Der Lentz ist da
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3.
Aber seit Michael Lentz (*1964) mit einem gar nicht mal unöden und also echt Klagenfurter Innerlichkeits- und Kleinschreibgeschraube (krankenzimmer. verwesungskammer. Auf den friedhof. in die zerstreuung entfernung) völlig verdient den Bachmannpreis gewonnen hat und vertrags-gemäß dichterdüster von Klappentextfotos heruntergucken darf, geht er nicht, wie weiland George "Cram" Cook, schön mit der Gattin in die Kneipe, sondern nutzt die Gunst der Stunde und veröffentlicht wie nicht recht gescheit, was einem als doppelband-promoviertem Lautpoetiker womöglich leichter fällt als uns stinkfaulen Leisetretern: was hört was kommt vom draußen ich. / das muss ein wagen träger sein / dem niemand fehlt den kommt allein / von selber aus dem kuckuck zum, heißt es z. B. nur vordergründig wahllos im einschlägig betitelten Gedichtband "Aller Ding" (Fischer 2003), der dann u.a. so weitergeht: über den lethe // tanzt die grete / geschwind geschwind / du himmlisches kind / lass uns vergessen / was wir vermessen / abgepackt und weggesackt / doch grete hieß nur käthe/ die war 'ne alte gräte / so kamen wir zum lethe / leider allzu spete usw.
Und immerhin das muß man bewundern: Hat man, Jahrzehnte nach Jandl, Gomringer, Rühm und Mon, das Laut- und Konkretpoesieticket erst einmal in der Tasche, läßt sich's darauf tatsächlich prima fahren, auch wenn es nur eins fürs Trittbrett ist:

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heißt es tendenziell aura- und gedankenfrei unter dem Rubrum Sonette, und wenn ich denke, daß ich für mein ca. zum selben Zeitpunkt entstandenes Gedicht "So werde ich Thomas Gsella", das ungefähr und wenigstens so ging:

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ficken

weder Bachmannpreis noch Buchvertrag erhalten habe, sondern nur zustimmendes Grunzen von Gsella selber, dann bin ich damit doch im Ernst viel besser bedient und muß nicht auch noch in stundenlanger Heimarbeit Bücher wie "Neue Anagramme" (Fischer) ausfrickeln:

RAUCHEN VERBOTEN

Auch roten Verben
bot er Nerven. Auch
nervte ob Rauchen
er. Aber noch TV-neu
raucht er eben von
Vorrat neben euch.

Dann doch lieber ein nettes Rettchen, hust!


4.
Überhaupt: das Anagramm. Damit hat's der Michael Lentz, das läßt ihn nicht los. ERZAEHLUNGEN // lehren Zeug an / Zunge leer. Nah / an Herz luegen / Lunge, Zehe Ran- / zen an - UrHegel? Vom Kopf auf den Bobbes gefallen? TAUCHSIEDER. Die Ars-Uchte, / die Rat-Suche: Ich rede Stau, und das ja nun bestimmt bzw. aber mit voller Absicht, wie der passionierte Anagrammatiker bei einer Poetikvorlesung im Berliner Colloquium programmatisch kundtat: "Wiederholung und Erinnerung sind dieselbe Bewegung, nur in entgegengesetzter Richtung", heißt es beim alten Dänen, womit, nebenbei, Kierkegaard gemeint ist, aber so einer wie Lentz, der schreibt nicht einfach Kierkegaard hin, wenn er Kierkegaard meint, dann hätte das Proseminar ja nichts mehr zu tun, und es ist ja auch viel eitler und dümmer so; aber weiter im Text: Das ganze Tun ist ein einziger Wiederholungszwang, Ordnung schaffen, Essen, Trinken, selbst frühmorgens oder zu einer bestimmten Tages- oder Nachtzeit Aufstehen, selbst Aufstehen ist eine einzige Wiederholung, abermals so ein origineller Gedanke, aber schöner noch ist dieser hier: "Das Zitieren geht mir auf die Nerven. Aber wir sind eingeschlossen in eine fortwährend alles zitierende Welt, in ein fortwährendes Zitieren, das die Welt ist", aber der ist von Thomas Bernhard bzw. von 1967, als Klein-Michael gerade im Kindergarten seiner Heimatstadt Düren angekommen war und vorzugsweise Turm bauen - Turm umwerfen wiederholte.
Aber originell soll es ja auch gar nicht sein, denn Franz Mon, Lentzens scheint's Säulenheiliger, ist ja nun auch schon ein paar Jahre her; es sei nun also pfleglich mit dem Erbe umgegangen: "Identität ist variierte Wiederholung", heißt es bei Franz Mon. Und das ist so einer dieser Schlüsselsätze. Dieser Satz "Identität ist variierte Wiederholung" hat mich bei der sprichwörtlichen "Herstellung" des 1998 erschienenen Buches "Neue Anagramme" besonders intensiv beschäftigt, bevor sich eine Lösung einstellte. … Aus der Titelzeile "Identität ist variierte Wiederholung" habe ich nach monatelanger Überlegung folgendes Anagramm gebastelt: "Identität ist variierte Wiederholung". … Unüberprüfbar hat die Ausgangsgestalt alle denkbaren Variationen durchrast, könnte man denken, nicht auszudenken, um wieder in ihre Ursprungsform einzurasten - die ja nicht ihr Ursprung ist. Sieh an; kein Gedanke so gebraucht, keine Idee so simpel, daß man nicht erst monatelang an ihr herumbasteln müßte, um sie dann vor Publikum noch großartig zu erklären.
Aber irgendwann hat auch ein Wiederholungsneurotiker wie Michael Lentz genug von Variation und Permutation und Erektion, da will er seine Bücher, wo er den Vorschuß schon verbraten hat, einfach vollkriegen und probt also die Identität von Grand Slam-Poetry und Seitenschinden - aus dem "Aller Ding"-Kapitel "Einzeilen": am anfang war das wart [neue Seite, S.G.] aus dem sinn aus dem wort aus der welt [neue Seite] das ist fast erzählend [neue Seite] dass, wovon wir reden [neue Seite] sie wissen es vielleicht noch nicht [neue Seite] DICHTER NEBEL [neue Seite] sex ist kein thema [neue Seite] was soll ich daran sagen? [neue Seite und immer so weiter]; fast nur noch zu toppen und entsprechend auch getoppt durch die Folgeabteilung "Einworte" (Auszug!): STARREN [neue Seite] homophoniens [neue Seite] tatsachenkern [neue Seite] sachenmachen [neue Seite] machtverhältnisse [neue Seite] so jetzt reicht es nicht, aber eben natürlich doch [neuer Abschnitt].


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Aktuelle Startcartoons

Heftrubriken

Briefe an die Leser

 Apropos: ¡Hola bzw. holla, spanischer Priester!

Du hast Dir die Worte aus dem Matthäusevangelium »Der Geist ist willig, aber das Fleisch ist schwach« zu sehr zu Herzen genommen und in Deiner Gemeinde in der Kleinstadt Don Benito einen regen Handel mit Potenzmitteln betrieben. Für diesen nach weltlichem Ermessen offensichtlichen Sündenfall musst Du Dich nun vor einem irdischen Gericht verantworten.

Uns ist zwar nicht bekannt, ob Du Dich gegenüber Polizei und Justiz bereits bußfertig gegeben hast oder weiterhin auf das Beichtgeheimnis berufst. Angesichts der laut Zeugenaussagen freudigen Erregung Deiner überalterten Gemeindemitglieder beim Geläut der Glocken sowie ihres Durchhaltevermögens bei den nicht enden wollenden Eucharistiefeiern inklusive Rumgeorgel, Stoßgebeten und orgiastischer Gottesanrufungen sprechen alle Indizien aber ohnehin gegen Dich!

Bleibt auch ganz ohne künstliche Stimulanzien weiter standfest im Nichtglauben: Titanic

 Also wirklich, »Spiegel«!

Bei kleinen Rechtschreibfehlern drücken wir ja ein Auge zu, aber wenn Du schreibst: »Der selbst ernannte Anarchokapitalist Javier Milei übt eine seltsame Faszination auf deutsche Liberale aus. Dabei macht der Rechtspopulist keinen Hehl daraus, dass er sich mit der Demokratie nur arrangiert«, obwohl es korrekt heißen müsste: »Weil der Rechtspopulist keinen Hehl daraus macht, dass er sich mit der Demokratie nur arrangiert«, müssen wir es doch anmerken.

Fasziniert von so viel Naivität gegenüber deutschen Liberalen zeigt sich

Deine Titanic

 Ach, Taube,

Ach, Taube,

die Du in Indien wegen chinesischer Schriftzeichen auf Deinen Flügeln acht Monate in Polizeigewahrsam verbracht hast: Deine Geschichte ging um die Welt und führte uns vor Augen, wozu die indische Fashion-Polizei fähig ist. Aufgrund Deiner doch sehr klischeehaften Modetattoos (chinesische Schriftzeichen, Flügel) fragen wir uns aber, ob Du das nicht alles inszeniert hast, damit Du nun ganz authentisch eine Träne unter dem Auge oder ein Spinnennetz auf Deinem Ellenbogen (?) tragen kannst!

Hat Dein Motiv durchschaut: Titanic

 Genau einen Tag, Husqvarna Group (Stockholm),

nachdem das ungarische Parlament dem Nato-Beitritt Schwedens zugestimmt hatte, mussten wir was auf heise.de lesen? Dass auf Deinen Rasenmähern der »Forest & Garden Division« nach einem Software-Update nun der alte Egoshooter »Doom« gespielt werden kann!

Anders gesagt: Deine Divisionen marodieren ab sofort nicht nur lautstark mit Rasenmähern, Traktoren, Motorsägen, Motorsensen, Trennschleifern, Rasentrimmern, Laubbläsern und Vertikutierern durch unsere Gärten, sondern zusätzlich mit Sturmgewehren, Raketenwerfern und Granaten.

Falls das eine Demonstration der Stärke des neuen Bündnispartners sein soll, na schön. Aber bitte liefere schnell ein weiteres Software-Update mit einer funktionierenden Freund-Feind-Erkennung nach!

Hisst die weiße Fahne: Titanic

 Aaaaah, Bestsellerautor Maxim Leo!

In Ihrem neuen Roman »Wir werden jung sein« beschäftigen Sie sich mit der These, dass es in nicht allzu ferner Zukunft möglich sein wird, das maximale Lebensalter von Menschen mittels neuer Medikamente auf 120, 150 oder sogar 200 Jahre zu verlängern. Grundlage sind die Erkenntnisse aus der sogenannten Longevity-Forschung, mit denen modernen Frankensteins bereits das Kunststück gelang, das Leben von Versuchsmäusen beträchtlich zu verlängern.

So verlockend der Gedanke auch ist, das Finale der Fußballweltmeisterschaft 2086 bei bester Gesundheit von der heimischen Couch aus zu verfolgen und sich danach im Schaukelstuhl gemütlich das 196. Studioalbum der Rolling Stones anzuhören – wer möchte denn bitte in einer Welt leben, in der das Gerangel zwischen Joe Biden und Donald Trump noch ein ganzes Jahrhundert so weitergeht, der Papst bis zum Jüngsten Gericht durchregiert und Wladimir Putin bei seiner Kolonisierung auf andere Planeten zurückgreifen muss? Eines will man angesichts Ihrer Prognose, dass es bis zum medizinischen Durchbruch »im besten Fall noch 10 und im schlimmsten 50 Jahre dauert«, ganz bestimmt nicht: Ihren dystopischen Horrorschinken lesen!

Brennt dann doch lieber an beiden Enden und erlischt mit Stil: Titanic

Vom Fachmann für Kenner

 Überraschung

Avocados sind auch nur Ü-Eier für Erwachsene.

Loreen Bauer

 Neulich

erwartete ich in der Zeit unter dem Titel »Glückwunsch, Braunlage!« eigentlich eine Ode auf den beschaulichen Luftkurort im Oberharz. Die kam aber nicht. Kein Wunder, wenn die Überschrift des Artikels eigentlich »Glückwunsch, Braunalge!« lautet!

Axel Schwacke

 Kehrwoche kompakt

Beim Frühjahrsputz verfahre ich gemäß dem Motto »quick and dirty«.

Michael Höfler

 Nichts aufm Kerbholz

Dass »jemanden Lügen strafen« eine doch sehr antiquierte Redewendung ist, wurde mir spätestens bewusst, als mir die Suchmaschine mitteilte, dass »lügen grundsätzlich nicht strafbar« sei.

Ronnie Zumbühl

 Pendlerpauschale

Meine Fahrt zur Arbeit führt mich täglich an der Frankfurt School of Finance & Management vorbei. Dass ich letztens einen Studenten beim Aussteigen an der dortigen Bushaltestelle mit Blick auf sein I-Phone laut habe fluchen hören: »Scheiße, nur noch 9 Prozent!« hat mich nachdenklich gemacht. Vielleicht wäre meine eigene Zinsstrategie selbst bei angehenden Investmentbankern besser aufgehoben.

Daniel Sibbe

Vermischtes

Erweitern

Das schreiben die anderen

Titanic unterwegs
25.04.2024 Köln, Comedia Max Goldt
27.04.2024 Schwerin, Zenit Martin Sonneborn mit Sibylle Berg
28.04.2024 Lübeck, Kolosseum Martin Sonneborn mit Sibylle Berg
29.04.2024 Berlin, Berliner Ensemble Martin Sonneborn mit Sibylle Berg