Müters Söhne #4
Patriarchat
Würde ich meinen Sohn noch lieben, wenn er ein Sektenführer wäre?
Thorben ist 5 Jahre alt. Seine Mutter Viola Müter schreibt hier im wöchentlichen Wechsel über ihn und ihre anderen zwei Söhne im Alter von 12 und 16 Jahren. Die Mutter nennt sie liebevoll ihre "Mütersöhnchen".
Neulich hat mich Thorbens Erzieherin Carola angerufen. Sie klang besorgt. Mein Sohn verhalte sich in letzter Zeit auffällig. Thorben entwickelt sich zu einem Sektenführer." Die Behauptung ärgerte mich. Als ob Carola weiß, wie sich ein Sektenführer verhält. Im Gegensatz zu mir war sie nicht mehrere Wochen aktives Mitglied bei Hare Krishna.
Doch ich musste ihr leider Recht geben. Sie erzählte, dass Thorben im Ruheraum der KiTa regelmäßig Zeremonien abhalte. Mädchen seien nicht erlaubt, wenn Thorben die Jungs darüber aufklärt, dass Nagellack toxische Männlichkeit heile und das wichtigste Mittel im Kampf gegen das Patriarchat sei. Wer sich anschließend nicht von ihm die Finger lackieren lasse, habe Matschbahn-Verbot. Jetzt war es also so weit. Ich musste mich mit der Frage auseinandersetzen, die sich jede Mutter wahrscheinlich irgendwann stellt: Würde ich meinen Sohn noch lieben, wenn er ein Sektenführer wäre?
Thorben kann sehr charismatisch sein. Spätestens als ich den Begriff "Patriarchat" hörte, war mir aber sofort klar: Thorben wurde von meinem Mann instrumentalisiert. "Papa hat gesagt, wer keinen Nagellack trägt, hasst seine Mama", gab er zu, als ich ihn konfrontierte. Mein Mann war nicht immer ein Feminist. Eigentlich erst seit ein paar Wochen. Als wir uns bei Hare Krishna kennenlernten, glaubte er, das Patriarchat sei eine Erfindung der Pharmaindustrie. Irgendwann wuchs in ihm der Wunsch, ein Feminist Icon zu sein.
Ich habe nichts gegen die geschmückten Nägel meines Mannes. Auch nichts gegen die von Thorben. Nagellack hat kein Geschlecht. Ich finde nur ihre Nageldesigns oft hässlich. Manchmal tragen beide glitzerndes Braungrün, manchmal Braungrün mit mattem Finish, einmal versehentlich die Farben der Reichsflagge. Anfangs weinte Thorben viel, weil er keine Farbe auf seinen Nägeln wollte. Aber sein Vater bestand darauf.
Ich bin unsicher, ob lackierte Fingernägel wirklich dafür sorgen können, dass irgendwann alle Menschen gleichgestellt sind. Bisher hat noch kein bemalter Daumennagel eines Mannes eine Frau in den Vorstand eines Dax-Unternehmens befördert. Doch ich habe mich mit dem Thema arrangiert.
Die Idee, im Kindergarten einen Kult zu gründen, gefällt mir. Mir ist nämlich aufgefallen, wie viele Jungs in Thorbens KiTa-Gruppe mittlerweile Nagellack tragen. Ich bin stolz auf Thorben. Er hat das Talent, Menschen zu inspirieren. Ich sehe die Sekte als unkonventionellen Weg, dieses Talent zu fördern. Ich spüre Dankbarkeit. Ich kann jetzt eindeutig beantworten, ob ich Thorben auch lieben würde, wenn er ein Sektenführer wäre: Ja, sogar umso mehr.
Die neue Kolumne von Viola Müter erscheint jeden Donnerstag - nur bei TITANIC.
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