Glanz und Elend des Kurtchen Sahne. Ein Wochenend-Fortsetzungsroman (99)
Aus der Geschichte zu lernen hätte also unbedingt bedeutet, sich um Gernolf nicht zu scheren, und obwohl es nicht einmal sicher war, daß der Freund, den man ja auch nicht mit der Kalaschnikow gepudert hatte, von Kurtchens Aufbruch irgendein Aufhebens machen würde, fand Kurtchen sich, nach all der Zeit, noch immer außerstande, einen Egoismus als nötig und moralisch unanfechtbar zu akzeptieren; das Unheil lag, wie er wußte, schon in der Tatsache, daß er das Wort Egoismus überhaupt dachte.
Petra stand so unvermittelt auf, wie es die Bierbank erlaubte, und Kurtchen ertappte sich dabei, wie er hoffte, sie trete bloß aus und lasse ihn fürs erste sitzen; doch Petra blieb stehen und warf sich ihre Tasche um, es stand "Iberia" darauf; und Fred hob den Kopf und nickte leicht, es war hier kein Bedauern, es war nun mal soweit. Nicht denken, es ist wie immer. Nichts ist einfach wie immer. Es ist immer wieder von neuem wie immer. Kurtchen sah, wie er stand, und er sah, wie er sah, daß sie stand, am anderen Ende des Raumes, sehr blond, sehr fremd, und er erinnerte sich, wie er gedacht hatte, daß es möglich sei, im Prinzip, und wie er aber gewußt hatte, daß es ihm nicht möglich sei, niemals, schon gar nicht durch die Traube derer, die sie umstanden; und wie um sich, ein halbes Leben (und zwei Ehen) später, noch einmal das Gegenteil zu beweisen, arbeitete er sich aus der Bank und stand und hörte sich sagen:
"Feierabend."
Das konnte freilich vieles heißen, und er sah Petra an und stierte dabei mehr als nötig, Trunkenheit zu simulieren; sie sah zurück, die Linke auf der Flanke der Tasche, mit der Rechten eine dunkle Strähne hinters Ohr wischend, das rote T-Shirt sanft gehügelt; und er mochte sich täuschen, aber sie sah erwartungsvoll aus; und wenn er, der mit Erwartungen nicht umgehen konnte, jetzt rülpste und vielleicht so was sagte wie "Mann" oder "uff", dann war er aus der Sache raus, jedenfalls für heute, aber der Gedanke verließ ihn, wie er gekommen war, durch die Hintertür.
"Wir bleiben noch", sagte da Gernolf. "Wir bleiben doch noch, nein?"
"Wir bleiben noch", sagte Fred, eher resigniert als freudig.
"Aber hallo", sagte Heiner dumm.
Und kaum hatte sich Kurtchen gefragt, was Gernolf neuerdings mit Fred und Heiner hatte und ob und wie das Fickproblem von gestern ausgeräumt wäre, hörte er Petra Abschiedsfloskeln schäkern, überlegte kurz, ob er seinen Aufbruch begründen sollte oder müßte, wußte aber nicht wie und ließ es bleiben, es schien auch keiner zu erwarten, niemand hielt ihn auf, schon das war seltsam, galten sie bereits als Paar? Und wenn ja, warum?
Er hatte Schiß. (wird fortgesetzt)
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