Gärtners kritisches Sonntagsfrühstück: Sag mir, wo du gehst
Big Brother, wir wissen es seit spätestens Edward Snowden, is listening, aber anders als in Orwells Ozeanien sind wir nicht wehrlos: „Kann man sich überhaupt schützen? Ja“, meldet „Spiegel online“. „Vorsicht bei der Wahl des Anbieters … auf europäische Dienste ausweichen … neue E-Mail-Adresse einrichten … Verschlüsseln von E-Mails und Daten … Krypto-Telefon zulegen … Anonymisierungsnetzwerk nutzen … Handy zu Hause lassen … brisante Daten mit Vorsicht behandeln“ – und da fängt das Problem freilich an. Denn die Zahl der „Spon“-Nutzer, die im Besitz von Daten sind, deren Brisanz irgendeinen Geheimdienst unterm Kopfhörer vorlockt, entspricht wahrscheinlich jener der „Spon“-Redakteure, die gegen derlei sexy Krawall mal Einspruch anmelden.
Mag sein, Privatsphäre ist ein Wert an sich, und es stört die Leute, wenn irgendwer irgendwo an ihren komplett uninteressanten Privatangelegenheiten teilhat, auch wenn das ausweislich des öffentlich-hemmungslosen Gelärmes an Mobilsprechgeräten und der zeitgenössischen Angewohnheit, jeden Schnupfen, jeden Ausflug und jeden Kackhaufen des Hundes auf Facebook bereitzustellen, schwer vorstellbar ist. Der Aufregung ums Abgehörtwerden eignet trotzdem etwas Trauriges, weil sie dem Individuum eine Selbstermächtigungspower vorflunkert, die es mit und ohne NSA nicht hat: Wer sich den von „Spon“ empfohlenen Anonymisierungsrouter bastelt (Kostenpunkt 65 Euro), darf sich zwar wie Edward Snowden vorkommen, der Skynet ein Schnippchen schlägt, aber der Laden bleibt ja der Mix aus Kasperletheater, Kaufhaus und Leistungszentrum, der weiß, was repressive Toleranz ist, und ernsthafte staatliche Überwachung des Normalbürgers in Friedenszeiten gar nicht nötig hat.
„Drei Tage lang ist ein Mann im Einkaufszentrum von Utrecht auf der Suche nach dem Ausgang umhergeirrt. Er hatte im vorösterlichen Gedränge die Orientierung verloren. Nach seiner Rettung erklärte der Mann, er habe es nicht gewagt, nach dem Ausgang zu fragen.“ Ror Wolf, 1987
Es ist ein Nebeneffekt der Veranstaltung, daß der gute Staat wieder denkbar wird, und zwar nicht als einer, der den Millionen und nicht den Millionären gehört, sondern als BRD ohne NSA/USA/BND, so wie unterm schwarzrotgrünen Fortschrittsregiment der Fleischfabrikant höchstens fürchten muß, zum Biofleischfabrikanten degradiert zu werden. Und während auf S. 4 Dr. Prantl E. Snowden und I. Kant flammend in einem Atemzug nennt („Aufklärung ist der Ausgang aus selbstverschuldeter Unmündigkeit“), muß das Medienressort vor der neuen Xbox warnen, „ist sie doch technisch dazu in der Lage zu sehen, was ihr Besitzer im Wohnzimmer macht … Die Xbox hört: Mit vier Mikrofonen erkennt sie ihre Besitzer … Mit drei Kameras hat die Xbox das Wohnzimmer im Blick … Die Maschine wertet Bewegungen biometrisch aus, sie merkt, ob ihr Besitzer lacht, staunt, gähnt, spricht, geht … Der Nutzer legt ein Profil über sich selbst an und alles, was er mit der Maschine tut … Die Xbox One taugt schon aufgrund ihrer Technik zum Datensammler, und Datensammeln ist für einen Konzern wie Microsoft längst Teil der Geschäftsidee.“
Kurz: „In ,1984' blickt der Televisor in Millionen Wohnzimmer. Mit der Xbox wird die Utopie Realität“ – die Utopie, wohlgemerkt, nicht die Dystopie; denn die wäre eine, in der irgendein Geheimdiensthansel mein Gähnverhalten zu den Akten nimmt und nicht die Xbox, deren Verkaufserfolg ihre Marktforschungs- und Konsumentendurchleuchtungsdienste sowenig aufhalten werden wie die Bildungsmängel der SZ-Redakteure ihre journalistischen Karrieren.
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