Gärtners kritisches Sonntagsfrühstück: Ohne Worte
Seit Jahren warte ich darauf, daß mich mal einer fragt, welchen Witz ich im nachhinein lieber nicht gemacht hätte, damit ich nämlich antworten kann: Den mit Petra Schürmann, deren Tochter ein geisterfahrender Selbstmörder getötet hatte und die an diesem Tod im Wortsinn kaputtgegangen ist.
„Es gibt das immer wieder“, sagte der von der Morgenzeitung zur Stellungnahme herbeigerufene Suizidexperte, nachdem ein lebensmüder Copilot sich und das mit 149 Menschen besetzte Verkehrsflugzeug, in dem er saß, gegen einen Berg gelenkt hatte, „etwa bei Geisterfahrern, die in suizidaler Absicht bewußt und wahllos in ein entgegenkommendes Auto fahren. Solche Fälle gibt es vermehrt seit 20 bis 30 Jahren. Vielleicht hat es gesellschaftliche Gründe, daß es weniger Respekt vor dem Leben anderer gibt, vielleicht hat es auch mit Kränkungen und Rachegelüsten zu tun. Aber das ist alles wirklich nur reine Spekulation.“
Die hatte auch Theodor W. Adorno schon angestellt, der als guter (und sei’s negativer) Dialektiker wußte, daß „Individualität“ in der totalen Marktgesellschaft eine mindestens traurige, schlimmstenfalls aggressive Lüge ist: „Person, als Absolutes, negiert die Allgemeinheit, die aus ihr herausgelesen werden soll, und schafft der Willkür ihren fadenscheinigen Rechtstitel. Ihr Charisma ist erborgt von der Unwiderstehlichkeit des Allgemeinen, während sie, irre geworden an dessen Legitimität, in der Not des Gedankens sich auf sich zurückzieht. Ihr Prinzip, das unerschütterlicher Einheit, wie es ihre Selbstheit ausmacht, wiederholt trotzig im Subjekt die Herrschaft … Vollendete Ichschwäche, der Übergang der Subjekte in passives und atomistisches, reflexähnliches Verhalten, ist zugleich das Gericht, welches die Person sich verdiente, in der das ökonomische Prinzip der Aneignung anthropologisch geworden war.“
„Unterm Strich zähl’ ich.“ Postbank, 2008ff.
Die Beispiele für die asozialen Egokrüppel, die, am allwaltenden ökonomischen Prinzip irre geworden, trotzig (und systemisch korrekt) ihre rücksichtslose Selbstheit ausspielen, sind derart Legion, daß das tägliche Rabaukentum hier nicht abermals exemplifiziert, sondern lediglich auf weiterführende Literatur verwiesen sei (Gärtner/Roth, Benehmt Euch! Ein Pamphlet, Köln 2013), und so spekulativ das alles freilich bleiben muß, so schwer fällt es doch, dieses neuerliche Beispiel barbarischer Egozentrik nicht als genauso emblematisch aufzufassen wie den Fall des Fahrzeuglenkers, der neulich den Notarztwagen angezeigt hat, weil er, der Lenker, ihm, dem Notarzt, hatte ausweichen müssen. Kurios allerdings, daß über diesen dialektisch-ironischen Umweg die nationale, obszön vereinnahmende Geste der ubiquitären Trauerbeflaggung plötzlich völlig einleuchtet: Denn das Kollektiv, das hier um seine Söhne und Töchter trauert, wäre ja dasselbe, in dem die ewige Rede vom Individuum und dessen unbedingt primärem Glück all jene zu individuellen Spitzenleistungen aufstachelt, „denen schon gar nichts mehr übrigbleibt als das begriffslose Diesda ihres Daseins“ (Adorno). Das sie dann ggf. so begriffslos beenden, wie sie es im Zweifel geführt haben.
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