Gärtners kritisches Pfingstsonntagsfrühstück: Aber ja
Kritischer Konsum, das hat man auch schon länger nicht gehört, und es mußte erst eine Fußball-WM-Sonderausgabe der Bild-Zeitung im Treppenhaus liegen, daß ich wieder wußte, wie das geht.
„Endlich geht es wieder los! WM-Fieber! Pelé: Der Fußball kann unser Land vereinen. Kaiser Franz: Was Jogis Jungs für den Titel brauchen. Deutschlands Fans im WM-Fieber: Wir sind heiß! Millionen Deutsche werden wieder mitfiebern. Bild zeigt, wie FAN-tastisch SCHLAND die Daumen drückt! Der Kapitän spricht in Bild: Lahms WM-Regeln. 20 Weltmeister fragen Jogi Löw. Hausbesuch bei unseren Gegnern: Radfahren mit Klinsi. Jogiopoly: Spiel dich zum Titel! Bundespräsident Joachim Gauck: Ich freue mich auf die WM, aber ...“, genau. Denn ohne Aber hängt in der kritischen Mediendemokratie das Ja, und sei es noch so enthusiastisch, bekanntlich in der Luft: „Wie verständlich ist es, wenn bei sportlichen Großereignissen vor allem das Strahlende gesehen wird, der Jubel auf den Tribünen … Doch zu den Begleiterscheinungen von Welt-Wettbewerben und Olympischen Spielen können auch Größenwahn und Rücksichtslosigkeit gehören. Es sollte uns nicht gleichgültig sein, ob die Organisatoren von Großereignissen Naturzerstörung und Gigantismus, Zwangsräumungen und Gewalt gegen Einheimische, Ausbeutung und Todesfälle auf ungesicherten Stadionbaustellen in Kauf nehmen … Menschenrechte brauchen eine starke Lobby, auch im Sport! … Liebe Fußballfans, mit diesen Gedanken wollte ich Ihnen auf keinen Fall die Freude am Fußball madig machen, so kurz vor dem erhofften neuen Sommermärchen“ –
es ist nicht einmal so, daß der Gauck (und das aus meinem Munde!) nicht recht hat, daß es nicht recht ist, wenn arme Leute für fünf Euro am Tag ein Stadion bauen (dabei krepieren), damit irgendwelche Oligarchen in Zürich oder Rio noch eine Milliarde reicher werden. Aber es ist wie beim kritischen Konsum immer: Die Kritik erleichtert den Konsum, macht ihn moralisch erschwinglich. Was Gauck beklagt, ist ja nicht das System, es sind, wie üblich, seine lokalen Auswüchse, wie er uns (wie könnte er) den Konsum ja auf keinen Fall madig machen will, sondern bloß möchte, daß wir, zwischen einer Runde Jogiopoly und dem Radfahrbesuch bei Klinsi, mal ernstlich über alles nachdenken. Damit sich nämlich grosso modo nichts zu ändern braucht und weiter so konsumiert wird, als gäb's kein Morgen (das es, wenn weiter so konsumiert wird, halt wirklich nicht gibt).
„Und sie meinen im Durchschnitt, daß es fortschrittlicher wäre, sich in ein Denken und Verhalten zu begeben, das kritisch zum bestehenden Zustand ist, ohne zu sehen, daß eins durchs andere definiert wird“ Brinkmann, 1972
Oder warum sonst sollte Springer 42 Millionen kostenlose Extrablätter unters Volk rühren? Werbung für Bild? Zu vernachlässigen. Werbung für die WM? Ist eh ein Selbstläufer. Nein: um für das gute, überwölbende, der Staatssicherheit dienliche Gefühl zu sorgen, daß alles, alles gut ist, weil ganz weit oben jemand die Dinge im Blick und im Griff hat und die kritische Öffentlichkeit eine Macht ist und der Souverän nämlich der Souverän. Und eben nicht das ohnmächtige, für dumm verkaufte Würstchen, das anderen die VIP-Lounges baut und sich die Karre trotzdem (deshalb) mit Nationalfahnen vollhängt.
Und am Ende wirklich Jogiopoly spielt: als Randfigur im schlechten Spiel.
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