Gärtners kritisches Sonntagsfrühstück: Hau rein
Da man, wie wir von Pippi Langstrumpf wissen, viel zu hören bekommt, bevor einem die Ohren abfallen, mir meine Ohren aber lieb sind, lese ich verdächtige Artikel („Viele Eltern verzweifeln, weil ihre Kinder nicht lesen“) mitunter nicht, sondern scanne sie auf Stellen, die mein Vorurteil bestätigen, ich bin da richtig gut drin: „Meine Zehnjährige … gehört zur Fraktion der Literaturbegeisterten … Bei uns zu Hause sind Bücher sehr präsent … Vor allem verstopfen sie das Kinderzimmer meiner jüngeren Tochter, die sich ihren Proviant bei ihrer älteren Schwester besorgt, aber auch in der Stadtbibliothek … Ja, es kann auch nerven, sie von den Büchern wegzerren zu müssen, wenn es Essen gibt … Schon in der vierten Klasse hatte meine Tochter alle Harry-Potter-Bücher durch“ – um einen alten Satz Oliver Maria Schmitts aus dem Zusammenhang zu reißen: Etwas Widerwärtigeres kriegt man selten aufgetischt.
Denn das musste ja nun raus, welch wunderbarem Bücherhaushalt der SZ-Mann Christian Mayer vorsteht und dass seine klugen Töchter nicht zu den dummen Smartphone- und Videogören gehören, sondern Bücher verschlingen, ja regelrecht „Proviant“ brauchen; und da Metaphern selten ganz unschuldig sind, weist der Umstand, dass man auf Bücher „Heißhunger“ hat, auf ebenjenes Konsum- und Binge-Prinzip, das später, läuft es schlecht, für den Verzehr von etwas so Superleckerem wie einer „Gebrauchsanweisung fürs Lesen“ sorgen wird.
Geschrieben hat’s, natürlich, die Literaturquaktasche und Piper-Vorsitzende v. Lovenberg, die uns die Spitzenkitschgeschichte serviert, wie sie als Kind „ihre Zeit am liebsten mit den Figuren ihrer Bücher“ verbrachte, „mit Pippi Langstrumpf, Tom Sawyer, Oliver Twist“ und darum jetzt ein besserer Mensch ist: „Lovenberg glaubt fest daran, dass Lesen zu einem glücklicheren Leben führt, zu mehr Empathie, Gelassenheit und innerem Gleichgewicht – vorausgesetzt, dass Bücher rechtzeitig zu einem finden“, und da müssen Eltern jetzt schon wieder aufmerken, dass sie’s nicht von neuem falsch machen. Denn was Adorno in seinen „Reflexionen zur Klassentheorie“ den „Doppelcharakter der Klasse“ nannte, ist, dass sich Klasse nicht nur im Gegensatz zum Außen, sondern auch durch Kontrolle nach innen statuiert, und da sind die Bürgersleut’, allwo zuhaus eine sog. Bildung herrscht, nun mal obenauf. Denn wer liest, ist gelassener und ausgeglichener, also geradezu resilienter, und arm und belesen zu sein wär’ immerhin Poesie, während dumm und arm das Klassenziel schon einigermaßen verfehlt.
„Viel hilft viel.“ Volks(wirtschafts)weisheit
Wer liest, kann dann später auch Sätze husten, die mit „Insofern ist es wenig zielführend“ beginnen, und wen solche Sätze sowenig stören wie das unvermeidliche „Jungs“ (die schon eo ipso lieber Minecraft spielen), der sorgt denn auch fürs Bestsellerregal, wo man immer gar nicht weiß, was man zuerst stehenlassen soll. Meine freundliche Quartiersbuchhandlung macht bald Inventur, und vielleicht sollte ich helfen und könnte dabei das Verhältnis von vorrätiger Literatur in einem etwas engeren Sinne und Lesefutter bestimmen, ein Verhältnis, das nach konservativer (meiner) Schätzung bei eins zu zwanzig liegt. Das ist nur marktgerecht: In den Erdgeschosswohnungen meines linksgrünbürgerlichen Quartiers hat der Durchschnittsfernseher eine Bildschirmdiagonale von einsfünfzig, in den USA entwickeln sie jetzt erste Serienfomate speziell fürs Smartphone, und in Deutschland kann jedes sechste bis fünfte Kind überhaupt nicht gescheit lesen.
Deutschland ist übrigens laut Mayer „das Land von Goethe und Schiller, von Saša Stanišić und Juli Zeh“ wie auch das von Mayer, Scheck und Elke Heidenreich; und wer da beim Lesen gelassener und glücklicher wird, der kann es, fragt man mich, der beim Lesen nicht Wellness, sondern Widerstand sucht, auch gleich bleiben lassen.
◀ | Lauter bunte Lügen! | Schweiger dreht Film über Schweinsteiger | ▶ |
Newstickereintrag versenden…