Gärtners kritisches Sonntagsfrühstück: Für immer jung
Ob Frank Witzels und Philipp Felschs Buch „BRD Noir“, das lt. Verlag einen Blick „auf die alte BRD“ wirft und „das Aroma der Epoche zwischen Nachkriegszeit und Wende“ zu schmecken versucht, nun gut oder schlecht ist (ich müßte es, wie so vieles, lesen): Kann es gut sein? Auch wenn ihm auffällt, „daß die alte Bundesrepublik angesichts aktueller globaler Unsicherheit und Identitätskrisen mehr und mehr romantisiert und idealisiert wird“ und „die Sehnsucht nach dem scheinbar heimeligen Rheinischen Kapitalismus und dem Biedermeier von Helmut Schmidt und ,Wetten, daß..?’“ wächst? „In ihrer aus ihren Büchern gespeisten Rückschau“ – Witzel hat das Buchpreisbuch „Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch depressiven Teenager im Sommer 1969“ verfaßt, Felsch den „Langen Sommer der Theorie“ – „erinnern Witzel und Felsch an die untergründige Gewalt und die Düsternis der alten BRD, die ihr ideales Aushängeschild eher in Eduard Zimmermann als in Frank Elstner fand.“
Gut dem Dinge; aber je schlechter diese BRD als „alte“ wegkommt, desto besser steht das da, was dann ja die „neue“ BRD sein muß, eine Art undüstere, coolere Nachfolgerin und nicht etwa ein und dasselbe mit dickerem Bauch. Die populäre Historisierung Deutschlands (West) als solche behauptet, wie unabsichtlich immer, einen Bruch, den es nicht gab, und mag das Niveau bei Witzel und Felsch ein anderes sein als in der Tagespresse, die den Tod Hans-Dietrich Genschers zu ausführlichen Aroma-Erinnerungen nutzte: die falsche Dichotomie alt/neu, die das ewig deutsche Deutschland in beide Richtungen verklärt, ist dieselbe.
„Während die Natur nach einigen Urtypen … schafft, ist beim Volk der Organismus nicht so sehr Typus als allmähliches Produkt; er ist der spezifische Volksgeist in seiner allmählichen Entwicklung.“ Burckhardt, 1905
„Wer aus dem kleinen Städtchen Bonn über die große Politik berichtete, der hatte auf den ersten Blick keine Mühe, das Geschäft der Scheinriesen zu durchschauen. Klein und groß – einen so gewaltigen Unterschied machte das nicht am Regierungssitz. Bonn war so durchschnittlich wie die hier von hier aus gesteuerte Politik. Das machte das Personal demütig und bescheiden“ (Stefan Kornelius, SZ). So demütig, daß es bis bis in die siebziger Jahre die Kriegsfolge der neuen Grenzen nicht anerkannte, Königsberg für sowjetisch besetzt hielt und allerlei Alleinvertretungsansprüche anmeldete; so bescheiden, daß sein sozialdemokratischer Weltkanzler im Alleingang die nukleare Nachrüstung nach Europa holte; und wenn sich Alt- und Neu-BRD unterscheiden, dann darin, daß das schreibende Personal heute rundum einverstanden ist: „Genscher ahnt damals“, als er in den frühen Achtzigern den Koalitionsbruch vorbereitet, „daß mit der SPD kein Staat mehr zu machen ist, die Partei wehrt sich mit Händen und Füßen gegen den von Kanzler Schmidt und der FDP befürworteten Nachrüstungsbeschluß“ (Susanne Höll ebd.). Und mit solchen Pazifisten, auch der jüngere Geißler wußte das, ist nun einmal kein Staat zu machen, was sich ein Jahrzehnt später, als Genscher demissioniert, abermals beweist: „Das vereinte und freie Deutschland, eine europäische Großmacht wider Willen, würde international auch militärisch agieren müssen“ (dies.), so widerwillig, wie es bereits 1914 und 1939 militärisch agieren mußte, und das ist dann, Höll zufolge, „keine Welt mehr für einen Hans-Dietrich Genscher“. Denn der war durch und durch die alte BRD und anerkannte, diesmal wider den ausdrücklichen Willen der restlichen EG, bloß die Sezessionsstaaten Slowenien und Kroatien, und das trug „wohl zur Eskalation des Kriegs auf dem Balkan bei“ (Chefredakteur Kister).
„Denn dies ist ja nicht allein eine Genschersche Konstante, dies scheint das eherne Gesetz der Zeit zu sein: 1. Grundsätzlich bleibt schon mal alles beim alten.“ Henscheid, 1986
Genscher war ein braver Mann, „einer, der wirklich gern Kartoffelsuppe mit Würstchen ißt“ (Höll). So wie die Kanzlerin heute. So war, so ist die Weltmacht wider Willen, und was immer alt an der BRD vor 1989 war, ist heut’ so ewig jung wie damals.
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