Gärtners kritisches Sonntagsfrühstück: Die andere Möglichkeit
Eine Metastudie – also eine Studie über Studien – hat festgestellt, dass die alte Beobachtung, Mädchen spielten anders als Jungen, der Triftigkeit nicht entbehre: Der männliche Nachwuchs interessiere sich, das legten die untersuchten Untersuchungen nahe, für Bagger, der weibliche für Puppen, Max fürs Raufen und Mia fürs Rollenspiel. Das Morgenblatt berichtete mit unverhohlener Genugtuung und schloss, jetzt könnten die Kinder, unbehelligt von Genderkram, einfach wieder „ihr Ding“ machen, so wie sie es, den wohlmeinenden Einflussversuchen der Erwachsenenwelt zum Trotz, ja immer schon getan hätten.
Nehmen wir an, die Beobachtung stimme; es ist ja gar nicht einzusehen, warum der Mensch, der ja sonst auch weithin atavistisch und naturhaft funktioniert, es in dieser Beziehung nicht tun sollte. Tucholsky, weißgott kein Rechter, hat sich wiederholt skeptisch über den mechanistischen Marxismus geäußert, der alles aufs Materielle, den Einfluss der Umwelt schiebe. Im Menschen, ich paraphrasiere frei, sei Verkehrtes angelegt, und damit sei zu rechnen.
Unterstellen wir also ruhig, es sei etwas dran: Jungen folgen Bewegung, Mädchen Farben, dann folgt daraus, anders, als es der Esel vom Morgenblatt glaubt, gerade nicht, man dürfe Mädchen in Rosa tauchen und Jungen in Blau. Die freie Gesellschaft wäre nämlich eine, in der jeder und jede die Wahl hat, und das Spielzeugregal mit den Plastikschnellkochtöpfen schränkt diese Wahl ein. Gesellschaft, wie wir sie imaginieren, ist immer: die andere Möglichkeit, ist nie das, was andere für uns vorsehen (und zwar aus Gründen für uns vorsehen). Neoliberale Metaphorik der Art, Globalisierung sei wie Stuhlgang, da sei nichts zu machen, beruft sich ja nicht zufällig auf Natur, denn Natur, das ist das Unausweichliche. So wie Menschen gelernt haben, sich vor Regen, Kälte, Hunger zu schützen, so können sie sich vor dem schützen, was ihnen (naturhaft) geschieht, und wer krank ist, geht ins Krankenhaus. Der Neoliberalismus sagt hier: Kein Geld, kein Krankenhaus, und genau das ist es.
„Ich kenne nichts ärmers / Unter der Sonn’ als euch, Götter! … Hier sitz’ ich, forme Menschen / Nach meinem Bilde, / Ein Geschlecht, das mir gleich sey, / Zu leiden, zu weinen, / Zu genießen und zu freuen sich, / Und dein nicht zu achten, / Wie ich!“ Goethe, 1774
Bei einer Abendbrotdiskussion mit liberalen Privilegierten, in der es um ihr und mein Privileg ging, nahmen die Privilegierten, bedrängt von meiner Frage, wer oder was unser Privileg denn rechtfertige, wie selbstverständlich bei der Biologie Zuflucht: Manches im Leben sei eben Pech, so wie manche eine Disposition für Alkoholismus oder Krebs hätten und andere nicht. Dass jeder seines Glückes Schmied sei, ist viel weniger die Parole als die Umkehrung: Das Glück ist eines jeden Schmied.
Es gibt ein berühmtes Experiment aus den sechziger Jahren, das einen Jungen, dessen Penis bei einer Beschneidung irreparabel verletzt worden war, als Mädchen deklarierte. David Reimer, der als Pubertierender beschlossen hatte, wieder als Junge zu leben, beging mit 38 Jahren Selbstmord, über seinen Fall wird bis heute diskutiert. Es ließe sich freilich schlicht finden, es müsse, bevor es ums Geschlecht (sex) geht, um die Geschlechterrolle (gender) gehen, die Erwartung, das dumm Binäre, das letztlich bloß der dummen Dichotomie von oben und unten entspricht. Rosa ist nicht das Problem; das Problem ist, dass aus dem Rosa etwas Graues folgt. Die Welt, wie wir sie uns vorstellen, sei aber keine graue, und daraus folge alles andere.
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