Gärtners kritisches Sonntagsfrühstück: Cold War Cuts
Ich habe vergessen, wo ich es gelesen habe, weil soviel Quark aus allen Kanälen rinnt, daß die Übersicht irgendwann abhanden kommt; und jedenfalls stand da, wo ich es gelesen habe, ungefähr, Rußland sei verrückt und von gestern, denn die Zeit der Einflußzonen sei vorbei; die neue Zeit, das sei die Zeit der Europäischen Union, mit welcher das Denken in Einflußzonen sich überlebt habe.
Man kann, so steht zu fürchten, hier nicht einmal mehr Goebbels bemühen, mit seinem Wort von den möglichst dreisten Lügen, die am ehesten glaublich seien; es verhält sich eher wie mit den zwei fünfzehnjährigen Migrantenjungs in meinem Unterschichten-Fitneßclub, denen die Bildungsrepublik Deutschland noch soviel Wortschatz übriggelassen hat, daß es für ein Gespräch über Bäume gar nicht mehr, für eins über die Geschmacksrichtungen von Eiweißpräparaten noch eben so reicht. Die Gymnasiasten, die in den Redaktionen über den neuen Kalten Krieg räsonieren, an dem allein das rückständige Rußland schuld sei, weil es das mit den Einflußzonen nicht kapiert habe (die EU ist nämlich keine Einflußzone der Deutschen Bank, und der europäische Osten, der in die EU will, nicht die kommende Einflußzone Deutschlands), glauben das wirklich, daß der Westen ganz arg- und absichtslos „Partnerschaften aller Art“ anstrebe (FAZ) und ja auch nichts dafür kann, daß arme Osteuropäerinnen auf reiche Westler stehen: „Es mag überdies für den Sowjetunion-Nostalgiker Putin belanglos sein oder unerhört klingen: Aber das Ende des Kalten Kriegs war für viele Millionen Europäer der größte Glücksfall. Es eröffnete die Aussicht auf Freiheit, etwas Wohlstand und ein Leben in Würde und ohne staatliche Schikane. Daß viele Russen das nicht so sehen, weil sie bittere Erfahrungen des Niedergangs gemacht haben, ist vielleicht verständlich. Aber wessen Schuld ist das?“ (Ebd.)
„Warte, warte nur ein Weilchen, / Bald kommt Haarmann auch zu dir / Mit dem kleinen Hackebeilchen / Und macht Leberwurst aus dir.“ Volksweise, um 1924
Natürlich die von Marx und nicht von Reagan; und wenn es jetzt ein Teil der Ukraine lieber mit IWF und Weltbank halten will, durchaus karitativen Institutionen, denen Würde, Freiheit und Leben erfahrungsgemäß über alles gehen, dann ist das eben Herzenssache bzw. der Wunsch nach einem Leben ohne wohlfahrtsstaatliche Schikane: „Schon im November letzten Jahres hieß es in einem Papier der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) ausdrücklich, die Umsetzung des Assoziierungsabkommens werde ,scharfe und zum Teil äußerst schmerzhafte soziale Anpassungen' erfordern. Im Januar bestätigte ein Experte in der DGAP-Zeitschrift Internationale Politik, bei einer ,Öffnung der Märkte' durch die Assoziierung der Ukraine an die EU wären ,enorme Anpassungskosten angefallen und die Arbeitslosenzahlen in die Höhe geschnellt'“ (Jörg Kronauer, Konkret).
Und so übt die – nebenbei: demokratisch nicht legitimierte, sogar ein bißchen faschistisch-antisemitische – ukrainische Revolutionsregierung namens des von ihr nur sehr teilweise vertretenen Volkes ihr gutes Recht aus, sich ihren Metzger selbst zu wählen, und der verschmähte Metzger muß martialisch das Hackebeil schwingen, weil ihm das Bio-Siegel der Zivilgesellschaft fehlt. Doch ein Schlachthof ist kein Streichelzoo, sondern die natürliche Einflußzone dessen, dem er gehört: „US-Regierung prüft Militärhilfe für Ukraine“ (t-online.de, 14.3.). Aber wessen Schuld ist das? – Na kommen Sie; wir sind doch, der Besatzung des völkischen Revolverblattes Der Spiegel gleich („Der Brandstifter. Wer stoppt Putin?“), alle Gymnasiasten.
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