Gärtners kritisches Sonntagsfrühstück: Auf bestem Wege
Es muß an der Präzision, Schärfe und Originalität solcher Beobachtungen liegen, daß es die kubanische Bloggerin Yoani Sánchez zur weltbekannten Dissidentin gebracht hat: „Die Autokraten stellen Märsche, riesige Prozessionen und prachtvolle Umzüge auf die Beine – ,die größten der Welt‘ –, in denen sie sich an ihrer eigenen Autorität ergötzen. Im Wissen, daß sie und nur sie, Millionen Menschen – mitten in der Nacht – aus ihren Betten scheuchen, in einen Bus verfrachten und ihre Namen in Listen eintragen können, um sie dann um einen großen Platz laufen zu lassen. Damit auch jeder weiß, wer das Sagen hat, lassen sie die Nachricht mithilfe einer Menschenmenge, die voller Ehrgefühl und Dankbarkeit ihren Namen ruft, verbreiten. Eine Menge, in die sie es nie wagen würden hinabzusteigen, mit der sie nicht verkehren, die sie fürchten und – innerlich – sogar verachten. Heute wird ein älterer Herr mit Sonnenbrille die 1. Mai-Feierlichkeiten auf der Plaza de la Revolución anführen. Tage zuvor hat er jede Dachterrasse in der Umgebung genauestens inspizieren lassen, hat Sicherheitsmänner an den höchsten Punkten der Stadt stationiert und berechnet, ab welchem Punkt die Tribüne sich außer Schußweite befindet. Sein Neffe wird zu seinem Schutz in der Nähe sein, und eine ganze Fahrzeugflotte steht im Ernstfall für seine Flucht bereit. Er traut der Menschenmenge, die er selbst zusammengetrommelt hat, keinen Millimeter über den Weg. Der Autokrat hat vor seinen eigenen Leuten Angst. Angst und Argwohn. Und dieses Gefühl beruht auf Gegenseitigkeit. Er weiß, daß diese Köpfe, die er von dort oben zu Hunderttausenden sieht nur dort sind, weil sie ihn fürchten und nicht weil sie ihn lieben.“
„Generación Y“, der weltberühmte Blog der weltbekannten Dissidentin, ist in 18 Sprachen übersetzt, denn Sánchez hat „jede Menge internationaler Helfer“, das „Time-Magazin und andere Verehrer ernannten sie zu einer der einflußreichsten Menschen auf Erden“ (SZ), weil sie, wenn wir das richtig sehen, u.a. herausgefunden hat, daß Raúl Castro seine Landsleute innerlich verachtet und nicht von irgendeinem Wirrkopf oder der CIA vom Podest geknallt werden will. Das zweite wäre nichts weiter als verständlich, das erste ergibt nur dann einen Sinn, wenn man annehmen will, Raúl und sein Bruder Fidel hätten nur aus Volksverachtung für den höchsten Alphabetisierungsgrad in Lateinamerika (und einen notabene durchaus höheren als in den USA oder Deutschland) gesorgt, weshalb jetzt alle Kubaner und Kubanerinnen in der Lage sind, die Wahrheit über die autoritären Knallköpfe an der Staatsspitze zu lesen, mit denen die hauptberufliche Dissidentin samt Mann denn auch gerechterweise „im Clinch“ (SZ) liegt: „Die Castros lassen das Ehepaar trotz allerlei Hürden gewähren. Unterdessen sind die Aufsätze prämiert worden, als Buch erschienen … Ihre vielen Preise durfte sie nach anfänglichem Reiseverbot bei mehreren Tourneen abholen, früher hatte sie mal in der Schweiz gewohnt“, und auch das unterscheidet den antikommunistischen Dissidenten vom antikapitalistischen: die Dissidenz ist erheblich einträglicher. (Braucht sich Piwitt gar nicht zu beklagen.)
„Ich dachte: Es ist egal, wenn der Kapitalismus uns nach Art eines dritten Kriegs ein drittes Mal an die Wand fährt. Du wirst es nicht mehr erleben. Aber wir wurden immer weniger. Und daß uns noch mal jemand einlud? In eine Jury bat? Einen Preis gab womöglich? Kuchen!“ Piwitt, 2014
Man kann sagen, Yoani Sánchez, deren neue, von der kubanischen Diktatur wiederum ohne weiteres gewährte Internetzeitung 14Ymedia kurz vor dem Start steht, hat es geschafft, weil sich die Welt für irgendeinen Slumbewohner zwischen Rio und Panama-Stadt zwar einen feuchten Kehricht, fürs kommunistisch geknechtete Kuba aber jederzeit interessiert, und wenn Sánchez mal am Ziel ist und die Brüder und Schwestern aus Miami in Havanna die Favelas ausweisen, wird sie befreit und unverzagt weiterbloggen, für soziale Gerechtigkeit, gegen die Verharmlosung der PCC-Diktatur. „Es wird ein schwieriger Weg“ (Sanchez). Immerhin ist bekannt, wo er endet.
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