Gärtners kritisches Sonntagsfrühstück: 2+2=4,5
Früher war es so: Es gab die freie Welt und das Reich des Bösen. Frei war die freie Welt, weil man seinen Präsidenten einen Esel schimpfen durfte, weil man kaufen konnte, was man wollte, und weil der Normalbürger nur dann mit Wanzen in der Wohnung rechnen mußte, wenn er sein Bett länger nicht bezogen hatte. Im Reich des Bösen war das alles genau andersherum: Wer den Präsidenten ausmeckerte, bekam Knast, zu kaufen gab es nichts, und wer ganz sicher sein wollte, zuhause nicht abgehört zu werden, der mußte sich ins Politbüro hochdienen; und war selbst da nicht sicher.
Auch das hat sich geändert. Das Reich des Bösen ist heute das ZDF, und der Geheimdienst der führenden Macht der freien Welt weiß, was ich wo im Internet kaufe, kennt meine E-Mails und wüßte, mit wem ich was am Netztelefon bespräche, täte ich es denn. Es liegt keine kleine Ironie darin, daß Orwells antikommunistischer Roman „1984“ in den USA und Großbritannien, glauben wir (wie immer) Spiegel online, gerade zum Bestseller wird, was nicht nur etwas über den Roman sagt (der ja gerade dort fehlgeht, wo er Lüge und Ausbeuterei nicht einer oligarchischen Elite als solcher, sondern einer perhorresziert sozialistischen unterjubelt), sondern auch über die freie Welt, die, wo ihre legendäre Freiheitlichkeit konkurrenzlos geworden ist und nicht mehr ganz so prominent im Schaufenster liegen muß, unter dem Banner der „inneren Sicherheit“ Persönlichkeitsrechte immer nonchalanter beschneidet.
„Wenn wir Freiheit gestalten wollen, gibt es nicht allzu viele Varianten.“ Gauck, 2012
„Freiheit“ indes, unter der mehr zu verstehen wäre als die „Kombination aus Rechtsstaat und öffentlicher Unterhaltung“ (Wolfgang Streeck), ist nicht der Selbstzweck bürgerlicher Herrschaft, sie ist ihr Abfallprodukt; es gibt sie, selbst in ihren Schwundformen, bloß da, wo die Herrschaft so sicher im Sattel sitzt, daß Pressionen nicht nötig sind. Schwindet diese Sicherheit, weil sich der Klassenkonflikt nur mehr schwer übertünchen läßt und immer flagranter das verletzt wird, was sich der Staatsbürger unter „Gerechtigkeit“ vorstellt, ist die Trias aus Kontrolle, Manipulation und Gewalt (wofür der externe Feind durchaus benötigt wird) tatsächlich die, die Orwell sich ausgemalt hat, und das gilt, wichtig zu sehen, für Herrschaft as such. (Endlich finde ich Gelegenheit, darauf hinzuweisen, daß in alten DDR-„Polizeiruf“-Krimis die freiheitlich westdeutsche Fernsehermittler-Usance, sich unberechtigterweise Zutritt zu einer Wohnung zu verschaffen, vollkommen unbekannt ist. Ist der Verdächtige nicht zuhause, gehen die Kommissare wieder.)
Ungarn und Rußland sind die europäischen, vulgär kapitalistischen, autoritär-völkischen Interpretationen des Orwellschen Themas, und es ist noch nicht lange her, daß das deutsche Bundesverfassungsgericht den Einsatz der Bundeswehr im Inneren nicht mehr ganz so apodiktisch ausgeschlossen hat wie in den sozial halbwegs symmetrischen Jahrzehnten zuvor. Und daß zwei plus zwei vier ist und nicht fünf, wovon ja laut Orwell alles abhängt: welcher RTL-Kunde weiß es überhaupt, welcher des ZDF schert sich drum, und welches Bologna-Opfer wird sich noch drum scheren können, wenn einmal offiziell das Gegenteil behauptet wird?
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