Gärtners kritisches Silvesterfrühstück: Stadtluft, unfrei
Ich wollte nicht darüber schreiben. Ich schreibe über so vieles, da kann ich mir vorbehalten, es auch einmal gut sein zu lassen, zumal dann, wenn so viel Drängenderes auf dem Programm steht, etwa Deutschlands erste „Influencer-Akademie“ (kein Witz) in Berlin (sowieso kein Witz) – „auf dem Lehrplan stehen Selbstvermarktung, Erlös- und Leistungsmodelle, Kapitalbedarf, Kostenplanung und Personal Coaching. Was sich die Influencer der ersten Stunde selbst beigebracht haben, kostet hier mehrere tausend Euro“ (bento.de) –, die allfällige Sorgen, den Bildungsstandort Deutschland betreffend, begraben dürfte.
Aber dann sagt mir wer, dessen Rat ich schätze, es sei doch vielleicht nicht von vornherein falsch, wenn sich Nachbarschaft ein wenig organisiere; Laufgruppe, na ja, das brauche es sicher nicht, aber gemeinsame Straßenbegrünung, evtl. sogar -reinigung? Wo hier immer alles herumfliege? Ich besehe mir nochmals den professionell gemachten Vierfarb-Flyer, der gestern im Briefkasten lag, und sage, was ich von Leuten halte, die auf ihre „Kieze“ stolz sind, und daß ich sicherlich keinen Wert darauf legte, bei der Gründung eines solchen „Kiezes“ mitzutun, und Straßenbegrünung, erst recht -reinigung seien öffentliche Ordnungsaufgaben, und dafür sei Stadt da, daß diese Aufgaben von Verwaltungsseite übernommen würden, und alles andere sei dann eben „Unser Dorf soll schöner werden“, und hätte ich nicht erst vergangene Woche von „provinzieller Urbanität“ geschrieben? Wo bleibe denn die Wohltat städtischer Anonymität? Sei es nicht arg genug, daß man permanent von Manufaktur-Personal geduzt werde? Und sei es etwa in Berlin nicht längst so, daß sich „Kiez“ mit „Revier“ übersetze und als Heimat gegen beispielsweise „Erlebnistouristen“ (Christiane Rösinger, Schwaben/Berlin) verteidigt werde? Wie ja Kiez, positiv verstanden, doch Milieu (nicht bloß juste milieu) sein müßte, gewachsen und wachsend aus Altem, Neuem, Bedeutsamem, Egalem, und eben nicht das saubergentrifizierte Quartier, das sich die besserverdienenden Insassen dadurch romantisieren, daß sie sich einen Stammtisch einfallen lassen? Wo sie über nichts anderes reden als über sich bzw. die drei Straßen, die sie zum lokalen Tribeca machen wollen? Anstatt die Welt zu einem Ort, wo man Tümeleien aller Art nicht mehr bedürfte?
„… und Franz fühlte sich so wohl und glücklich, in der kleinen beengten Stube so selig und frei, daß er sich kaum seiner vorigen trüben Stunden erinnern konnte …“ Tieck, 1798
Diese und ähnliche Fragen habe ich gestellt, und ich stelle sie hier abermals und will sie aber als Fragen so stehen lassen; denn der (unter Garantie junge) Mann, der die Initiative anführt, wohnt ja naturgemäß um die Ecke, und weder will ich mir Feinde in allernächster Nachbarschaft machen noch sog. zivilgesellschaftliches Engagement denunzieren. Wenn der Kiez-Stammtisch hier Bäume pflanzt, bin ich dafür; aber wo ich herkomme, hatte die Welt zwei Kilometer im Quadrat, und es fällt mir im Traum nicht ein, da, wo ich bin und wo sie gottlob größer ist, mein Vollglück wiederum in der Beschränkung zu suchen.
Wo das neue Jahr, wenn nicht alles täuscht, doch beschränkt genug werden wird. Kommen Sie, bitte, gut hin.
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