Aus Eugen Egners Püppchenstudio
Erbschaft
Es war eine Person gestorben, die mir testamentarisch eine Fabrik in einem ganz abgelegenen Landstrich vermacht hatte. Weshalb ich als Erbe eingesetzt worden war, konnte ich nicht in Erfahrung bringen. Ich hoffte, die Fabrik werde künftig auf die eine oder andere Weise dazu beitragen, meine finanzielle Lage zu verbessern, und konnte es kaum erwarten, sie zu inspizieren. Die Autofahrt war elend lang. Die Fabrik stand am Rand einer kleinen Stadt, deren Namen ich nicht mehr weiß. Schon von weitem war der Fabrik anzusehen, daß sie ihre Blütezeit hinter sich hatte. Das Gebäude machte einen stark heruntergekommenen Eindruck, es war bestimmt schon lange nichts mehr darin produziert worden. Ob noch ein Firmenschriftzug vorhanden war, weiß ich auch nicht mehr. Durch irgendeine offene Tür muß ich eingetreten sein. An das Innere der Fabrik kann ich mich erinnern, an den total verwüsteten Flur mit nur noch zum Teil vorhandenen Bürotüren und den mit Glassplittern und Schrott übersäten Boden. Alles, woran ich vorbei kam, lag in Trümmern und war verschimmelt. Mitten in der Fertigungshalle, zwischen eingestürzten Mauern, breitete sich ein See aus. Es stank nach Moder und Verwesung. Und dafür war ich stundenlang gefahren! Dieses Erbe wollte ich selbstverständlich ausschlagen. Ich fror und wollte wieder zurück ins Sonnenlicht. Als ich durch den desolaten Flur zurück zum Ausgang eilte, öffnete sich plötzlich eine der verschmutzten Türen. Vor Schreck blieb ich wie gelähmt stehen.
„Möchten Sie hereinkommen und sich setzen?“ fragte mit sanfter Stimme ein ganz und gar harmlos aussehender älterer Herr in leicht schäbiger Kleidung. Der Eindruck, den er erweckte, beruhigte mich etwas, trotzdem war mir die Situation alles andere als geheuer.
„Nein, ich muß jetzt gehen“, gab ich so selbstsicher wie möglich zurück.
„Es hat eigentlich auch keinen Sinn, sich zu setzen“, ließ sich der Mann wieder unvermindert sanft hören und fuhr dann fort: „Gehen Sie jetzt lieber, sonst kann ich für nichts garantieren!“
Mit dem Gefühl, daß er wahrscheinlich nicht übertrieb, verließ ich ihn wortlos.
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