Humorkritik | Januar 2021

Januar 2021

Keine Sache ist wirklich ernst zu nehmen, nur der lebende Mensch ist es.
Hermann Keyserling

Dicht und Wahrheit

Lügen müsste ich, wollte ich abstreiten, dass ich mit der 15jährigen Steffi aus Stefanie Sargnagels Roman »Dicht« sympathisiere: Die pfeift auf den Stumpfsinn ihres Gymnasiums, lässt sich lieber durch die grindigsten Beisln Wiens treiben, plaudert ohne Scheu mit Fixern und verbringt irgendwann den Großteil ihrer Tage mit anderen Trinkern, Kiffern und Teilzeitverrückten in der Gemeindewohnung des vierzigjährigen, rührend zwischen Weisheit und Blödsinn schlingernden »Aids-Michl«.

Das hat Charme, auch komische Momente – etwa, wenn die arme Steffi, um 40 Euro zu verdienen, Bierdosen am Donaukanal verkaufen will und sich, um sie kühl zu halten, eine Riesenladung Eiswürfel in den Rucksack kippt, was bei der langen Wanderung durch die Stadt für erwartbar nasse Hosen sorgt – und Pointen, hier anlässlich einer polizeilichen Drogenkontrolle: »Ich fühlte mich mädchenhafter als je zuvor, auch wenn ich mich gendermäßig sonst eher den Landstreichern zurechnete.«

Lügen müsste ich aber auch, würde ich behaupten, die Sprachkunst dieses Romans erhöbe sich über seinen Gegenstand. Vielmehr klingt es hier selbst oft wie im Teenager-Tagebuch: »Sein Lieblingsmonolog, wenn er so richtig fett war, ging darüber, dass wir alle Genies sind.« Jemand ist »die bestaussehendste Person im Raum«, »dazwischen schneiten die kuriosesten Besucher bei der Tür rein«, und »auch die anderen staunten nicht schlecht«. Und vom Avantgardefaktor her? »Vom Avantgardefaktor her war das eine eher regressive Entwicklung.« Jedoch: »Sarah und ich hatten im Vorfeld versucht, die Veranstaltung aus Gründen der Kapitalismuskritik zu boykottieren.« Wer, vom Phrasenfaktor her oder auch aus Gründen der Sprachkritik, derlei Sportreporterprosa schon im Vorfeld nicht lesen will, der arbeitet wahrscheinlich nicht für die Neue Zürcher (»Hamlet-Monolog der Wiener Generation Z«) und sieht, anders als die scheint’s restlos erblindete Frankfurter Rundschau, weder eine Geistesverwandtschaft mit Arthur Schnitzler noch eine mit Thomas Bernhard, dessen Kunst, ich erinnere mich dunkel, über das Ächzen von Hauptsätzen hinausging: »Ich beschloss, eine Reise zu machen. Vom Bierverkauf hatte ich genügend Geld und keine Verpflichtungen. Ich kaufte mir das Ticket spontan. In Michis Wohnung erzählte ich stolz von meinem Plan. Es würde meine erste Reise allein sein. Ich stopfte Kleidung in einen Rucksack und erklärte meiner Mutter, dass ich eine Woche in Krakau sein würde. Dann setzte ich mich in den Zug. Ich schaute aus dem Fenster und fühlte mich frei.« Wäre man wohlwollend, man würde das »lakonisch« nennen. Oder, wie die vollends irre gewordene Taz: »eine Sprache, die den Sound der Straße aufnimmt und die sich keine Beschränkungen auferlegt, um dem politisch korrekten linken Zeitgeist zu gefallen«.

Dass den Zuständigen die nicht selbstauferlegten Beschränkungen solcher Literatur nicht auffallen: geschenkt. Warum ihnen aber vor lauter Begeisterung über Social Media und trendiges Sozialmemoir, Elendsreport, Wien-Exotismus und Bierdosenromantik schier das bürgerliche Teetässchen aus der Hand fällt, das ahnt Sargnagel selbst: »Es war einfach, neben den ganzen angepassten Ärztekindern, die außer Klavierunterricht und Tanzschule kaum Freizeitbeschäftigungen hatten, als Arbeiterkind mit Nasenpiercing wie der wüsteste Straßenpunk zu erscheinen.«

  

Aktuelle Startcartoons

Heftrubriken

Briefe an die Leser

 Hände hoch, Rheinmetall-Chef Armin Papperger!

Laut einem CNN-Bericht lagen deutschen und US-amerikanischen Geheimdiensten Hinweise zu russischen Plänen für einen Angriff auf Sie vor. So etwas nennt man dann wohl »jemanden mit seinen eigenen Waffen schlagen«!

Mörderpointe von Titanic

 Lieber Fritz Merz,

im Podcast »Hotel Matze« sagst Du, dass Du in Deutschland große Chancen bekommen hättest und etwas zurückgeben wolltest. Jawollo! Wir haben da direkt mal ein bisschen für Dich gebrainstormt: Wie wär’s mit Deinem Privatjet, dem ausgeliehenen vierten Star-Wars-Film oder dem Parteivorsitz? Das wäre doch ein guter Anfang!

Wartet schon ganz ungeduldig: Titanic

 Gesundheit, Thomas Gottschalk!

In Ihrem Podcast »Die Supernasen« echauffierten Sie sich mit einem fast schon dialektischen Satz zu Ihrer eigenen Arbeitsmoral über die vermeintlich arbeitsscheuen jungen Leute: »Es gab für mich nie eine Frage – ich war nie in meinem Leben krank, wenn ich im Radio oder im Fernsehen aufgetreten bin. Ich habe oft mit Schniefnase irgendwas erzählt.«

Das hat bei uns zu einigen Anschlussfragen geführt: Wenn Sie »nicht krank«, aber mit Schniefnase und im Wick-Medinait-Delirium vor einem Millionenpublikum zusammenhanglose Wortfetzen aneinandergereiht haben – war das nicht eine viel dreistere, weil höher bezahlte Form der Arbeitsverweigerung als eine Krankmeldung?

Wünscht Ihnen nachträglich gute Besserung: Titanic

 Deine Fans, Taylor Swift,

Deine Fans, Taylor Swift,

sind bekannt dafür, Dir restlos ergeben zu sein. Sie machen alle, die auch nur die leiseste Kritik an Dir äußern, erbarmungslos nieder und nennen sich bedingt originell »Swifties«. So weit ist das alles gelernt und bekannt. Was uns aber besorgt, ist, dass sie nun auch noch geschafft haben, dass eine der deutschen Stationen Deiner Eras-Tour (Gelsenkirchen) ähnlich einfallslos in »Swiftkirchen« umbenannt wird. Mit Unterstützung der dortigen Bürgermeisterin und allem Drum und Dran. Da fragen wir uns schon: Wie soll das weitergehen? Wird bald alles, was Du berührst, nach Dir benannt? Heißen nach Deiner Abreise die Swiffer-Staubtücher »Swiffties«, 50-Euro-Scheine »Sfifties«, Fische »Sfischties«, Schwimmhallen »Swimmties«, Restaurants »Swubway« bzw. »SwiftDonald’s«, die Wildecker Herzbuben »Swildecker Herzbuben«, Albärt »Swiftbärt« und die Modekette Tom Tailor »Swift Tailor«?

Wenn das so ist, dann traut sich auf keinen Fall, etwas dagegen zu sagen:

Deine swanatische Tayltanic

 Hi, Daniel Bayen!

Sie sind sehr jung und waren mit Ihrer Firma für Vintage-Klamotten namens Strike vorübergehend sehr erfolgreich. Die ist jetzt pleite, machte aber zeitweise 2,9 Millionen Euro Umsatz. Der Bedarf war so groß, dass Correctiv-Recherchen zufolge sogar massenhaft Neuware zwischen die Secondhand-Bekleidung gemischt wurde. Auch Sie räumten demnach ein, gefälschte Ware geordert zu haben. Allerdings, so behaupten Sie, nur, um Ihren »Mitarbeitern zu zeigen, wie man gefälschte Ware identifiziert und aussortiert«.

Aber Bayen, Ihre Expertise besteht doch darin, neue Sachen auf alt zu trimmen. Also versuchen Sie bitte nicht, uns solche uralten Tricks zu verkaufen!

Recycelt Witze immer nach allen Regeln der Kunst: Titanic

Vom Fachmann für Kenner

 Der kästnerlesende Bläser

Es gibt nichts Gutes
außer: Ich tut’ es.

Frank Jakubzik

 Lifehack von unbekannt

Ein Mann, der mir im Zug gegenüber saß, griff in seine Tasche und holte einen Apfel heraus. Zu meinem Entsetzen zerriss er ihn mit bloßen Händen sauber in zwei Hälften und aß anschließend beide Hälften auf. Ich war schockiert ob dieser martialischen wie überflüssigen Handlung. Meinen empörten Blick missdeutete der Mann als Interesse und begann, mir die Technik des Apfelzerreißens zu erklären. Ich tat desinteressiert, folgte zu Hause aber seiner Anleitung und zerriss meinen ersten Apfel! Seitdem zerreiße ich fast alles: Kohlrabi, Kokosnüsse, anderer Leute Bluetoothboxen im Park, lästige Straßentauben, schwer zu öffnende Schmuckschatullen. Vielen Dank an den Mann im Zug, dafür, dass er mein Leben von Grund auf verbessert hat.

Clemens Kaltenbrunn

 Beim Aufräumen in der Küche

Zu mir selbst: Nicht nur Roger Willemsen fehlt. Auch der Korkenzieher.

Uwe Becker

 Claims texten, die im Kopf bleiben

Ist »Preissturz bei Treppenliften« wirklich eine gute Catchphrase?

Miriam Wurster

 Dialog auf Augenhöhe

Zu meinen Aufgaben als Marketingexperte in einem modernen Dienstleistungsunternehmen gehört es unter anderem, unzufriedene Kunden zu beschwichtigen. Vor kurzem beschwerte sich einer von ihnen darüber, dass wir in unseren Texten immer dieselben Bausteine verwenden. Die Mail ließ mich ganz irritiert zurück. Ein Glück, dass wir für genau solche Anfragen gleich fertige Antworten haben.

Andreas Maier

Vermischtes

Erweitern

Das schreiben die anderen

Titanic unterwegs
03.08.2024 Kassel, Caricatura-Galerie Miriam Wurster: »Schrei mich bitte nicht so an!«
04.08.2024 Frankfurt/M., Museum für Komische Kunst Die Dünen der Dänen – Das Neueste von Hans Traxler
04.08.2024 Frankfurt/M., Museum für Komische Kunst »F. W. Bernstein – Postkarten vom ICH«
09.08.2024 Bremen, Logbuch Miriam Wurster