Humorkritik | Oktober 2019

Oktober 2019

Oh-he-ho, die Zeiten ändern sich / und ab heute wird wieder gelacht
Oh-he-ho, die Zeiten ändern sich / ja, ab heute wird wieder nach vorne gedacht
Jürgen Renfordt

Pessachfest am Kapo-Tisch

»Ich sprach ständig darüber, ja, aber davon erzählen? Unmöglich, um die Shoah zu erwähnen, hatte ich nur meine Witze.« Sagt Salomon, Überlebender von Auschwitz – als einziger seiner Familie, abgesehen von seiner Tante und drei Cousins (»Wie hatte eine Jüdin mitten im Holocaust derart fruchtbar sein können?«), deren einer nach ihm benannt wurde; sodass es nun zwei Salomons gibt, von denen der zweite sich an die Tochter des ersteren ranmachen wird.

Aber langsam. »Wir waren eine wunderbare Erfindung« heißt der kurze Roman, eher eine Novelle, des Verlagslektors und Schriftstellers Joachim Schnerf (Verlag Antje Kunstmann; im Original: »Cette nuit«), und die Befürchtungen angesichts eines weiteren Holocaust-Buches nach, zum Beispiel, Takis Würgers »Stella«, zumal eines mit witzereißendem Protagonisten, verfliegen beim Lesen schnell. Denn Schnerfs Erzählen, das den Witzzwang des Überlebenden eher ausstellt und aufführt, als ihn plump und provokativ mitzumachen, weckt nicht den Verdacht, es auf ein möglichst umstrittenes »Buch der Stunde« angelegt zu haben. Die Handlung kreist um mehrere Pessach-Feste: Salomons letztes mit seiner Frau Sarah, das voraussichtlich letzte des todkranken Mannes selbst und all die anderen davor mit den Töchtern und Enkeln. Zynismus färbt die Stimme des Erzählers, der sich dessen bewusst ist und doch nicht davon lassen kann, da die Shoah nicht von ihm lassen kann: »Ich hasse die einsame Zeremonie des Zubettgehens, trauere fast schon der Baracke in Auschwitz nach.«

Nur im »Shoah-Café«, »wo zwischen befreundeten Überlebenden der Lagerkrieg tobte«, sind Salomons Witze nicht »fehl am Platz«. Anders in der Familie, wo er den Töchtern nahelegt, ihre zwei Goldfische Göring und Goebbels zu nennen, seine Enkel als »verflixte Kapo-Babys« bezeichnet oder einen davon seinem Vater mit ausgestrecktem Arm und »Heil Papa« entgegentreten lässt. Dabei überdecken diese Scherze grundsätzliche Zweifel: »Wie konnte man ein Kind dieser Welt aussetzen? Der Welt der Lager, dem kriegerischen 20. Jahrhundert, das seinen überlebenden Kindern lediglich die Perspektive des Kapitalismus bot.« Traumata, in ihren Facetten aufgeteilt auf die verschiedenen Familienmitglieder: Das klingt psychologisch vorhersehbar. Aber gerade dadurch, dass der Konflikt zwischen brutalen Witzen als Bewältigungsmittel und der Möglichkeit zu einfühlsamen Beziehungen in der Schwebe gehalten wird, bleibt die Offenheit der Frage erhalten: Wie nach der Shoah noch »davon erzählen«, noch leben, noch lachen?

Und zwar ohne sich, gerade als Deutscher, die »belustigten Blicke unserer Henker« zu eigen zu machen. »Die Deutschen haben ein echtes Problem mit der Shoah«, sagt Salomon zur Austauschschülerin seiner Enkelin, die zu seiner Enttäuschung gar nicht blond und blauäugig ist (ihre Vorfahren wurden in der Türkei geboren). »Sollen sie doch kommen, die Nazis«, denkt er in einem Moment der Panik. »Sollen sie doch kommen und das Geschirr abwaschen!«

  

Aktuelle Startcartoons

Heftrubriken

Briefe an die Leser

 Kann es sein, Tod,

dass Du, so wie alle anderen in der Handwerksbranche auch, mit Nachwuchsmangel zu kämpfen hast? Und dass Du deshalb Auszubildende akzeptieren musst, die schon bei den Basiskompetenzen wie Lesen Defizite aufweisen?

Oder hast Du, der Seniorchef höchstpersönlich und wieder zu eitel, eine Brille aufzusetzen, am 11. August beim gerade mal 74 Jahre alten Kabarettisten Richard Rogler angeklopft? Nur, um dann einen Tag später, nachdem Dir der Fehler aufgefallen war, beim 91jährigen Bauunternehmer und Opernballbesucher Richard Lugner vorbeizuschauen?

Antwort bitte ausschließlich schriftlich oder fernmündlich an Titanic

 LOL, Model Anna Ermakova!

Im Interview mit der Süddeutschen Zeitung verrieten Sie Ihre sprachlichen Ambitionen: »Ich möchte unbedingt lernen, Witze auf Deutsch zu machen. Ich will die Leute zum Lachen bringen, ohne dass sie nur über mich lachen«. In Deutschland fühlten Sie inzwischen »eine solche Wärme«.

Der war schon mal gut!

Loben die Witzeprofis von Titanic

 It’s us, hi, Kulturwissenschaftler Jörn Glasenapp!

Dass Sie als Verfasser einer Taylor-Swift-Monographie Ihren Gegenstand öffentlich verteidigen, etwa im Deutschlandfunk Nova oder bei Zeit Campus: geschenkt. Allein, die Argumente, derer Sie sich dafür bedienen, scheinen uns sanft fragwürdig: Kritik an Swift sei eine Sache »alter weißer Männer«, im Feuilleton herrsche immer noch König Adorno, weshalb dort Pop und »Kulturindustrie« unentwegt verdammt würden, und überhaupt sei die zelebrierte Verachtung des Massengeschmacks eine ausgesprochen wohlfeile Methode, Distinktion zu erzeugen, usw.

Je nun, Glasenapp: Wir sind in der privilegierten Position, dass es uns erst mal egal sein kann, ob Taylor Swift nun gute Kunst macht oder schlechte. Wir sind da pragmatisch: Manchmal macht das Lästern Spaß, manchmal der Applaus, je nachdem, wer sich gerade darüber ärgert. An Ihnen fällt uns bloß auf, dass Sie selbst so ein peinlicher Distinktionswicht sind! Denn wenn unter alten weißen Männern Swiftkritik tatsächlich Konsens und Massensport ist, dann sind Sie (*1970) wieder nur der eine nervige Quertreiber, der sich abheben will und dazwischenquäkt: Also ich find’s eigentlich ganz gut!

Finden das eigentlich auch ganz gut: Ihre Affirmations-Aficionados von Titanic

 Huhu, »Tagespost«, Würzburg!

Du bist die einzige überregionale katholische Wochenzeitung in Deutschland und freust Dich in einem Kommentar, dass die Deutsche Bischofskonferenz die spektakuläre Eröffnungszeremonie der Olympischen Spiele in Paris verurteilt, weil auch sie in dem dort veranstalteten Bacchanal eine Abendmahlparodie gesehen haben will. Du hältst es jedoch für überflüssig, dass die Bischöfe dabei meinen, »zur Rechtfertigung ihrer Kritik auf die religiösen Gefühle anderer Religionen Bezug nehmen zu müssen. Warum nicht einfach die blasphemische Verhöhnung Christi und jenes Abends, in der das Sakrament der Eucharistie eingesetzt wurde, in aller Deutlichkeit und Direktheit verurteilen?« Exakt!

In welcher Form soll dies geschehen, was schlägst Du vor? »Gefragt wäre freilich keine künstliche Empörung, kein moralisches Aufplustern, sondern der authentische Ausdruck der Überzeugung, dass Gott seiner nicht spotten lässt, und die wohl schlimmste Sünde, die ein Mensch begehen kann, die Gotteslästerung ist.«

Waaas, Tagespost? Gotteslästerung schlimmer als Hostiendiebstahl, Kreditkartenbetrug und Völkermord? Und sogar schlimmer als Unzucht, Abtreibung und Selbstbefleckung?

Wenn Du das so siehst, dann kündigt wutschnaubend das Abo: Titanic

 Heda, »FAZ«

»Schlechte Politik verhindert Fortschritt« – das stimmt. Aber ist das nicht haargenau die Politik, für die Du immer trommelst?

Fragt schlecht und recht Titanic

Vom Fachmann für Kenner

 Schock total

Wenn im Freibad dieser eine sehr alte Rentner, der sich beim Schwimmen kaum fortzubewegen scheint, der bei seinen zeitlupenartigen Zügen lange untertaucht und von dem man dachte, dass er das Becken schon vor langer Zeit verlassen hat, plötzlich direkt vor einem auftaucht.

Leo Riegel

 Fachmann fürs Leben

Im Gegensatz zur Schule hat man im Zivildienst viele nützliche Dinge gelernt. Zum Beispiel, dass man die Körper von Menschen, die sich selbst nicht mehr bewegen können, regelmäßig umlagert, damit keine Seite wund wird. Um anhaltenden Druck auf die Haut zu minimieren, wende ich auch heute noch die Pfirsiche in der Obstschale alle paar Stunden.

Friedrich Krautzberger

 Etwas Heißem auf der Spur

Jedes Mal, wenn ich mir im Hochsommer bei herabgelassenen Rollläden oder aufgespanntem Regenschirm vergegenwärtige, dass das Leben in unseren versiegelten Städten auf entsetzlich wechselhafte Weise öde und klimatisch vollkommen unerträglich geworden ist, frage ich mich unwillkürlich: TUI bono?

Mark-Stefan Tietze

 Meine Mitbewohnerin

legt Dinge, die nicht mehr so ganz intakt sind, in Essig ein. Dabei ist es egal, ob es sich um verkalkte, schmutzige oder verschimmelte Dinge handelt. Ich würde bei ihr den Verbrauch von Salzsäure in den kommenden Jahren intensiv beobachten – gerade falls ihr Partner unerwarteterweise verschwinden sollte.

Fia Meissner

 Steinzeitmythen

Fred Feuerstein hat nie im Steinbruch gearbeitet, er war Rhetoriker! Er hat vor 10 000 Jahren zum Beispiel den Whataboutism erfunden und zu seiner Losung erhoben: »Ja, aber … aber du!«

Alexander Grupe

Vermischtes

Erweitern

Das schreiben die anderen

  • 29.08.:

    Die FR erwähnt den "Björnout"-Startcartoon vom 28.08.

  • 27.08.: Bernd Eilert schreibt in der FAZ über den französischen Maler Marcel Bascoulard.
  • 27.03.:

    Bernd Eilert denkt in der FAZ über Satire gestern und heute nach.

  • 29.01.:

    Ein Nachruf auf Anna Poth von Christian Y. Schmidt im ND.

  • 13.04.:

    HR2 Kultur über eine TITANIC-Lesung mit Katinka Buddenkotte im Club Voltaire.

Titanic unterwegs
10.09.2024 Frankfurt am Main, Club Voltaire »TITANIC-Peak-Preview« mit Stargast Miriam Wurster
13.09.2024 Stade, Schwedenspeicher Ella Carina Werner
14.09.2024 Frankfurt, Museum für Komische Kunst Bernd Pfarr: »Knochenzart«
16.09.2024 Wiedensahl, Wilhelm-Busch-Geburtshaus Hilke Raddatz mit Tillmann Prüfer