Humorkritik | Oktober 2019

Oktober 2019

Oh-he-ho, die Zeiten ändern sich / und ab heute wird wieder gelacht
Oh-he-ho, die Zeiten ändern sich / ja, ab heute wird wieder nach vorne gedacht
Jürgen Renfordt

Schüler gegen Goethe

Gar zu einfach will es mir scheinen, sich über jenen Eifer lustig zu machen, der private oder staatliche Gruppierungen und Institutionen antreibt, sich über Kunst und Künstler zu empören im Namen einer Moral, deren vermeintliche Überlegenheit von kaum einer Überlegung getrübt wird. Die Meldungen über bilderstürmerische Aktionen aller Art werden indes langsam ermüdend. Mutmaßlich rassistische Gemälde werden versteckt oder abgehängt, mutmaßlich sexistische Verse entfernt, verdächtige Veranstaltungen abgesagt, Sprache bereinigt. Inzwischen reicht bereits das vage Gefühl des Unwohlseins in Gegenwart des inkriminierten Werkes. Dass Komik in diesem Zusammenhang unter Generalverdacht steht, brauche ich wohl nicht eigens zu betonen, tue es aber hiermit zur Sicherheit trotzdem. Denn die einschlägigen Zensurbegehren rücken näher.

Kurz vor dessen 270. Geburtstag hat das »Künstlerkollektiv Frankfurter Hauptschule« Goethes Gartenhaus in Weimar mit Toilettenpapier beworfen, um auf das beschissene Frauenbild des Dichters aufmerksam zu machen – und das sieht angeblich so aus: »Goethes Werk strotzt vor erotischen Hierarchien zuungunsten seiner Frauenfiguren, die von ihm oft als ›naive Dummchen‹ gestaltet werden. Das 14jährige Gretchen im ›Faust‹ ist nur das prominenteste Beispiel. In seinem (von Franz Schubert vertonten) Gedicht ›Heidenröslein‹ verharmlost Goethe gar eine brutale Vergewaltigung in lieblichem Trällerton.« Die späte Entdeckung des Doppelsinns – den bisher freilich kaum ein Interpret je übersehen hatte – regte das Kollektiv zu Nachforschungen in Goethes Privatleben an, und es stellte sich heraus: »Zeit seines Lebens suchte Goethe Liebesbeziehungen zu wesentlich jüngeren Frauen«, die er dann »verführte«, »bedrängte«, »schwängerte«, »emotional ausbeutete« und / oder »sitzen ließ«.

Die Mischung aus Leben und Werk, Wikipediawissen und Blockwartgesinnung ist interessant – zumal in diesem Fall, da keine Laienzensoren sich entrüsten, sondern Menschen, die sich selbst als Künstler bezeichnen. Gemessen an der hier intendierten Idealvorstellung von reiner Kunst und reinlichem Privatleben würde wenig von dem Bestand haben, was in Museen, auf Bühnen oder zwischen Buchdeckeln noch zu sehen ist, da viele Künstler vergangener Epochen privat zwielichtigen Auffassungen anhingen und ihre Kunst unangenehm vieldeutig ist. Mit Goethe hat das Kollektiv den prominentesten Sittenstrolch an den Pranger gestellt, mit einer Begründung, die in ihrer unverstellten Borniertheit wie eine Parodie klingt – dass wir sie nicht sogleich als solche anerkennen, macht den Geist der Zeit nur noch etwas unheimlicher. Denn, so sagt das Kollektiv in einem weiteren, kurz danach veröffentlichten Manifest unter Bezugnahme auf vermeintlich pädophile Malerei: »Unsere Kunst ist amoralisch, und das ist gut so.« Und: »Wer von gesellschaftlichen Konventionen Abweichendes aus der Kunst verbannen will, der will die Diktatur der Angepassten.«

Die will das »Künstlerkollektiv Frankfurter Hauptschule« also nicht.

Wieso aber verrät dann eines ihrer Mitglieder, dass Ideen für Aktionen wie die in Weimar zwar »in irgendwelchen Kneipengesprächen« entstehen, nur um dann all die bierernsten Begründungen für das Goethe-Bashing fast wörtlich zu wiederholen und sich schließlich noch den Talar des aufklärerischen Volkspädagogen umzuhängen? »Es geht um den gesellschaftlichen Umgang mit Goethe als Identifikationsfigur. Er ist in der deutschen Geistesgeschichte eine herausragende Figur, war aber ein behäbiger, bürgerlicher Typ.« Ein Fürstenknecht eben, wie schon zeitgenössische Bohemiens bemängelten. »Wir haben eben das Gefühl, es gibt einen scheinheiligen Umgang mit Goethe.«

Ja, das trifft gefühlsmäßig zumindest auf dieses verwirrte Mitglied des Kollektivs zu. Seine Definition des speziell inkriminierten Goethegedichts vom »Heidenröslein« als »humoristische Vergewaltigungslyrik« gefällt mir dann aber schon wieder so gut, dass ich mildernde Umstände finde, um die Frankfurter Hauptschüler – mehrheitlich wohl an der Städelschule bildende Künste studierend – von dem Verdacht freizusprechen, letztlich bloß eine weitere der angepassten Initiativen zu sein, die jede Vergangenheit am liebsten mit einem gezielten Moralkeulenhieb gänzlich aus der Welt schaffen würden.

  

Aktuelle Startcartoons

Heftrubriken

Briefe an die Leser

 Ciao, Luisa Neubauer!

»Massendemonstrationen sind kein Pizza-Lieferant«, lasen wir in Ihrem Gastartikel auf Zeit online. »Man wird nicht einmal laut und bekommt alles, was man will.«

Was bei uns massenhaft Fragen aufwirft. Etwa die, wie Sie eigentlich Pizza bestellen. Oder was Sie von einem Pizzalieferanten noch »alles« wollen außer – nun ja – Pizza. Ganz zu schweigen von der Frage, wer in Ihrem Bild denn nun eigentlich etwas bestellt und wer etwas liefert bzw. eben gerade nicht. Sicher, in der Masse kann man schon mal den Überblick verlieren. Aber kann es sein, dass Ihre Aussage einfach mindestens vierfacher Käse ist?

Fragt hungrig: Titanic

 Aaaaah, Bestsellerautor Maxim Leo!

In Ihrem neuen Roman »Wir werden jung sein« beschäftigen Sie sich mit der These, dass es in nicht allzu ferner Zukunft möglich sein wird, das maximale Lebensalter von Menschen mittels neuer Medikamente auf 120, 150 oder sogar 200 Jahre zu verlängern. Grundlage sind die Erkenntnisse aus der sogenannten Longevity-Forschung, mit denen modernen Frankensteins bereits das Kunststück gelang, das Leben von Versuchsmäusen beträchtlich zu verlängern.

So verlockend der Gedanke auch ist, das Finale der Fußballweltmeisterschaft 2086 bei bester Gesundheit von der heimischen Couch aus zu verfolgen und sich danach im Schaukelstuhl gemütlich das 196. Studioalbum der Rolling Stones anzuhören – wer möchte denn bitte in einer Welt leben, in der das Gerangel zwischen Joe Biden und Donald Trump noch ein ganzes Jahrhundert so weitergeht, der Papst bis zum Jüngsten Gericht durchregiert und Wladimir Putin bei seiner Kolonisierung auf andere Planeten zurückgreifen muss? Eines will man angesichts Ihrer Prognose, dass es bis zum medizinischen Durchbruch »im besten Fall noch 10 und im schlimmsten 50 Jahre dauert«, ganz bestimmt nicht: Ihren dystopischen Horrorschinken lesen!

Brennt dann doch lieber an beiden Enden und erlischt mit Stil: Titanic

 Kurz hattet Ihr uns, liebe Lobos,

Kurz hattet Ihr uns, liebe Lobos,

als Ihr eine Folge Eures Pärchenpodcasts »Feel the News« mit »Das Geld reicht nicht!« betiteltet. Da fragten wir uns, was Ihr wohl noch haben wollt: mehr Talkshowauftritte? Eine Homestory in der InTouch? Doch dann hörten wir die ersten zwei Minuten und erfuhren, dass es ausnahmsweise nicht um Euch ging. Ganz im Sinne Eures Formats wolltet Ihr erfühlen, wie es ist, Geldsorgen zu haben, und über diese Gefühle dann diskutieren. Im Disclaimer hieß es dann noch, dass Ihr ganz bewusst über ein Thema sprechen wolltet, das Euch nicht selbst betrifft, um dem eine Bühne zu bieten.

Ihr als Besserverdienerpärchen mit Loft in Prenzlauer Berg könnt ja auch viel neutraler und besser beurteilen, ob diese Armutsängste der jammernden Low Performer wirklich angebracht sind. Leider haben wir dann nicht mehr mitbekommen, ob unser Gefühl, Geldnöte zu haben, berechtigt ist, da wir gleichzeitig Regungen der Wohlstandsverwahrlosung und Realitätsflucht wahrnahmen, die wir nur durch das Abschalten Eures Podcasts loswerden konnten.

Beweint deshalb munter weiter den eigenen Kontostand: Titanic

 Sie, Victoria Beckham,

Sie, Victoria Beckham,

behaupteten in der Netflix-Doku »Beckham«, Sie seien »working class« aufgewachsen. Auf die Frage Ihres Ehemanns, mit welchem Auto Sie zur Schule gefahren worden seien, gaben Sie nach einigem Herumdrucksen zu, es habe sich um einen Rolls-Royce gehandelt. Nun verkaufen Sie T-Shirts mit dem Aufdruck »My Dad had a Rolls-Royce« für um die 130 Euro und werden für Ihre Selbstironie gelobt. Wir persönlich fänden es sogar noch mutiger und erfrischender, wenn Sie augenzwinkernd Shirts mit der Aufschrift »My Husband was the Ambassador for the World Cup in Qatar« anbieten würden, um den Kritiker/innen so richtig den Wind aus den Segeln zu nehmen.

In der Selbstkritik ausschließlich ironisch: Titanic

 Mmmmh, Thomas de Maizière,

Mmmmh, Thomas de Maizière,

über den Beschluss der CDU vom Dezember 2018, nicht mit der Linkspartei oder der AfD zusammenzuarbeiten, an dem Sie selbst mitgewirkt hatten, sagten Sie bei Caren Miosga: »Mit einem Abgrenzungsbeschluss gegen zwei Parteien ist keine Gleichsetzung verbunden! Wenn ich Eisbein nicht mag und Kohlroulade nicht mag, dann sind doch nicht Eisbein und Kohlroulade dasselbe!«

Danke für diese Veranschaulichung, de Maizière, ohne die wir die vorausgegangene Aussage sicher nicht verstanden hätten! Aber wenn Sie schon Parteien mit Essen vergleichen, welches der beiden deutschen Traditionsgerichte ist dann die AfD und welches die Linke? Sollte Letztere nicht eher – zumindest in den urbanen Zentren – ein Sellerieschnitzel oder eine »Beyond Kohlroulade«-Kohlroulade sein? Und wenn das die Alternative zu einem deftigen Eisbein ist – was speist man bei Ihnen in der vermeintlichen Mitte dann wohl lieber?

Guten Appo!

Wünscht Titanic

Vom Fachmann für Kenner

 Frühlingsgefühle

Wenn am Himmel Vögel flattern,
wenn in Parks Familien schnattern,
wenn Paare sich mit Zunge küssen,
weil sie das im Frühling müssen,
wenn überall Narzissen blühen,
selbst Zyniker vor Frohsinn glühen,
Schwalben »Coco Jamboo« singen
und Senioren Seilchen springen,
sehne ich mich derbst
nach Herbst.

Ella Carina Werner

 Kapitaler Kalauer

Da man mit billigen Wortspielen ja nicht geizen soll, möchte ich hier an ein großes deutsches Geldinstitut erinnern, das exakt von 1830 bis 1848 existierte: die Vormärzbank.

Andreas Maier

 Teigiger Selfcaretipp

Wenn du etwas wirklich liebst, lass es gehen. Zum Beispiel dich selbst.

Sebastian Maschuw

 Überraschung

Avocados sind auch nur Ü-Eier für Erwachsene.

Loreen Bauer

 No pain, no gain

Wem platte Motivationssprüche helfen, der soll mit ihnen glücklich werden. »There ain’t no lift to the top« in meinem Fitnessstudio zu lesen, das sich im ersten Stock befindet und trotzdem nur per Fahrstuhl zu erreichen ist, ist aber wirklich zu viel.

Karl Franz

Vermischtes

Erweitern

Das schreiben die anderen

Titanic unterwegs
25.04.2024 Köln, Comedia Max Goldt
27.04.2024 Schwerin, Zenit Martin Sonneborn mit Sibylle Berg
28.04.2024 Lübeck, Kolosseum Martin Sonneborn mit Sibylle Berg
29.04.2024 Berlin, Berliner Ensemble Martin Sonneborn mit Sibylle Berg