Humorkritik | Juli 2019

Juli 2019

Ich lache über Alles.
Gottfried Benn

Berge der Eitelkeit

Im berühmten Beispiel aus der Biologie wird die Kröte von einem »ungerichteten Appetenzverhalten« aus dem sicheren Teich und in die Wildnis getrieben. Sie hat Hunger, weiß es aber noch nicht. Sobald allerdings kreuchende Beute ihren Weg kreuzt, dämmert der Amphibie ihr eigenes Bedürfnis: Ihr Gehopse hat nun einen Zweck, ihr Appentenzverhalten ist gerichtet. Was aber der Kröte das Krabbeltier, ist dem Humorkritiker die vermeintliche Geistesgröße, die bei ungebrochenem Selbst- und Sendungsbewusstsein nichts mehr zu melden hat, die Gedanken aber dennoch in intellektueller Inkontinenz nur so aus sich herauspladdern lässt.

2012 publizierte Peter Sloterdijk mit »Zeilen und Tage« (Suhrkamp) auf mehr als 600 Seiten persönliche Notizen und Journale. Jetzt pladdert er mit »Neue Zeilen und Tage« weiter, und wie schon im Vorgängerwerk sind des Meisters Selbstgespräche auf beinahe jeder Seite ein Quell großer versehentlicher Komik. Zunächst entzückt das professorale Gestelze, mit dem Peter Sloterdijk sich fortwährend selbst dabei zusieht, Peter Sloterdijk zu sein, etwa in Abu Dhabi, dieser »letzten utopischen Enklave der Erde«, wo der Redner gleichmütig hinnimmt, ein von Scheichs gebuchtes Gimmick zu sein. Oder in Modena, wo er gegenüber zudringlichen Journalisten »Antworten wie Schuppen von trockener Kopfhaut« absondert und seine Open-Air-Rede auf der Piazza Grande von einem Klarinettenspieler übertönt wird. Sloterdijk in Kalifornien, wo er als Vertreter »der weißen Wissenschaften« von einem »farbigen Beschwerdeführer« bezichtigt wird, in seinem Vortrag über Napoleon dessen Verhältnis zur Sklaverei nicht erwähnt zu haben: »Ich nahm mir erneut die Freiheit, beim Gegenstand zu bleiben«. Die Pose des pikierten Bescheidwissers legt er auch zu Hause nicht ab: Da sieht man ihn dann vor dem Fernseher das zauselige Haupt schütteln, die »Verzwergung« Europas beseufzen und die »Verhässlichung« der USA, über das Finanzamt zu räsonieren, die Migrationspolitik oder Sozialdemokraten, diese »Anästhesisten der Unterschichten«. Selten hat man einen so unverstellten Blick auf so gewaltige Eitelkeiten: Beim Schreiben eines Librettos fühlt sich Sloterdijk wie Wagner oder Verdi, bei der Uraufführung misst er die Dauer der Ovationen – um danach wohlwollend die wohlwollenden Rezensionen der Feuilletons rezensieren. Besonders hübsch, weil anrührend, wenn im Ressentiment die Hilflosigkeit des Belesenen sichtbar wird. Zu Judith Butler fällt ihm ein: »Wer Judith heißt, findet überall einen Holofernes«. Nach einem Frühstück mit Ulrich Beck notiert er: »Das Angenehme an ihm ist, dass er dir seine Polemiken gegen dich nicht nachträgt«. Und Steigbügelhalter Carl Schmitt ist für ihn, why not, ein »Friseur an der metaphysischen Perücke Hitlers«.

Beinahe liebenswert wirkt es, wenn Sloterdijk ins Staunen kommt. Sei es über sich selbst, wie er als vom Jetlag geplagtes Gespenst über einen US-Campus schleicht, sei es, wenn er in einem österreichischen Museum eine mittelalterliche Waschmaschine für Kettenhemden entdeckt: »Unbeschreiblich die Freude«!

Sie sei hiermit geteilt.

  

Aktuelle Startcartoons

Heftrubriken

Briefe an die Leser

 Ah, »Galileo«!

Über die Arbeit von Türsteher/innen berichtest Du: »Viele Frauen arbeiten sogar als Türsteherinnen«. Wir setzen noch einen drauf und behaupten: In dieser Branche sogar alle!

Schmeißen diese Erkenntnis einfach mal raus:

Deine Pointen-Bouncer von Titanic

 Hey, »Dyn Sports«!

Bitte für zukünftige Moderationen unbedingt merken: Die Lage eines Basketballers, der nach einem Sturz »alle Viere von sich streckt«, ist alles Mögliche, aber bestimmt nicht »kafkaesk«. Sagst Du das bitte nie wieder?

Fleht Titanic

 Hello, Grant Shapps (britischer Verteidigungsminister)!

Eine düstere Zukunft haben Sie in einem Gastbeitrag für den Telegraph zum 75jährigen Bestehen der Nato skizziert. Sie sehen eine neue Vorkriegszeit gekommen, da sich derzeit Mächte wie China, Russland, Iran und Nordkorea verbündeten, um die westlichen Demokratien zu schwächen. Dagegen hülfen lediglich eine Stärkung des Militärbündnisses, die weitere Unterstützung der Ukraine und Investitionen in Rüstungsgüter und Munition. Eindringlich mahnten Sie: »Wir können uns nicht erlauben, Russisch Roulette mit unserer Zukunft zu spielen.«

Wir möchten aber zu bedenken geben, dass es beim Russisch Roulette umso besser fürs eigene Wohlergehen ist, je weniger Munition im Spiel ist und Patronen sich in der Trommel befinden.

Den Revolver überhaupt vom eigenen Kopf fernhalten, empfehlen Ihre Croupiers von der Titanic

 Gute Frage, liebe »Süddeutsche«!

»Warum haben wir so viele Dinge und horten ständig weiter? Und wie wird man diese Gier wieder los?« teast Du Dein Magazin an, dasselbe, das einzig und allein als werbefreundliches Vierfarb-Umfeld für teuren Schnickschnack da ist.

Aber löblich, dass Du dieses für Dich ja heißeste aller Eisen anpackst und im Heft empfiehlst: »Man kann dem Kaufimpuls besser widerstehen, wenn man einen Schritt zurücktritt und sich fragt: Wer will, dass ich das haben will?«

Und das weiß niemand besser als Du und die Impulskundschaft von Titanic

 Vielen Dank, Claudia Schiffer!

Vielen Dank, Claudia Schiffer!

Die Bunte zitiert Sie mit der Aussage: »Um zu überleben, muss man gesund sein, und wenn man am gesündesten ist, sieht man einfach auch am jüngsten aus!« Gut, dass Sie diese Erkenntnis an uns weitergeben!

Geht jetzt zur Sicherheit bei jeder neuen Falte, Cellulitedelle und grauen Strähne zum Arzt:

Ihre greise Redaktion der Titanic

Vom Fachmann für Kenner

 Tödliche Pilzgerichte (1/1)

Gefühlte Champignons.

Lukas Haberland

 Frage an die Brutschmarotzer-Ornithologie

Gibt es Kuckucke, die derart hinterhältig sind, dass sie ihre Eier anderen Kuckucken unterjubeln, damit die dann fremde Eier in fremde Nester legen?

Jürgen Miedl

 Citation needed

Neulich musste ich im Traum etwas bei Wikipedia nachschlagen. So ähnlich, wie unter »Trivia« oft Pub-Quiz-Wissen gesammelt wird, gab es da auf jeder Seite einen Abschnitt namens »Calia«, voll mit albernen und offensichtlich ausgedachten Zusatzinformationen. Dank Traum-Latinum wusste ich sofort: Na klar, »Calia« kommt von »Kohl«, das sind alles Verkohl-Facts! Ich wunderte mich noch, wo so ein Quatsch nun wieder herkommt, wusste beim Aufwachen aber gleich, unter welcher Kategorie ich das alles ins Traumtagebuch schreiben konnte.

Alexander Grupe

 Konsequent

Die Welt steckt in der Spermakrise. Anzahl und Qualität der wuseligen Eileiter-Flitzer nehmen rapide ab. Schon in wenigen Jahren könnten Männer ihre Zeugungsfähigkeit vollständig verlieren. Grund hierfür sind die Verkaufsschlager aus den Laboren westlicher Großkonzerne. Diese Produkte machen den Schädling platt, das Plastik weich und das Braterlebnis fettfrei und wundersam. Erfunden wurden diese chemischen Erfolgsverbindungen von – Überraschung – Y-Chromosom-Trägern. Toll, dass sich Männer am Ende doch an der Empfängnisverhütung beteiligen.

Teresa Habild

 Im Institut für Virologie

Jeder Gang macht krank.

Daniel Sibbe

Vermischtes

Erweitern

Das schreiben die anderen

Titanic unterwegs
07.05.2024 Köln, Stadthalle Martin Sonneborn mit Sibylle Berg
07.05.2024 Frankfurt am Main, Club Voltaire »TITANIC-Peak-Preview« mit Kathrin Hartmann
08.05.2024 Wiesbaden, Schlachthof Martin Sonneborn mit Sibylle Berg
09.05.2024 Zürich, Friedhof Forum Thomas Gsella