Humorkritik | Mai 2018
Mai 2018
Die mit Abstand lustigste Zahl ist 123.
Prof. Dr. Christian Hesse, Ph. D.
Verkorkste Lage
Ähnlich beharrlich wie Wilhelm Genazino alle zwei Jahre einen neuen Kurzroman vorlegt, versuche ich dann, an dieser Stelle für Genazino als einen der wenigen komischen Autoren deutscher Sprache zu werben, und drücke mich genauso beharrlich davor, in angemessen umfangreicher und analytischer Form darzulegen, warum ich solche Sätze komisch finde: »Ich setzte mich in der Nähe einer Straßenbahn-Haltestelle auf eine Bank und wartete, bis mein innerer Unfriede abgezogen war. Hier fiel mir der Name einer neuen Haltestelle ein: Verkorkste Lage. Ich stellte mir einen Schaffner vor, der in der Straßenbahn ausrief: Verkorkste Lage, bitte alles aussteigen. Ich lachte nicht, sondern dachte an meine Mutter«. Merkwürdige Sätze wie: »Ich fing an, mit der Straße zu reden, auf der ich unterwegs war. Mit dir geschieht nichts, sagte ich zu der Straße, du bist aus Gleichmut gemacht, deswegen bist du bei mir so beliebt. Dann fiel mir nichts mehr ein, was ich zu einer Straße noch hätte sagen können.« Rätselhafte Sätze: »Ich ging dieser Tage frühzeitig zu Bett und hatte vergessen, meinen linken Hausschuh auszuziehen. Ich erschrak nicht einmal; ich sagte nur zu mir: Das sind die Silvester-Kracher des Sommers.« Erscheinungen wie das Erzähler-Ich als »unglaubliche Lebenstatsachenverarbeitungsmaschine«, ein Radio, das an »Frequenzverzerrungen und Tonquetschungen« zugrundegeht, »beglückte Hühner, die verwundert auf ihre selbstgelegten Eier herabschauten«, Verkäuferinnen, die im Supermarkt herum-»orschelten« …
Es bedarf zweifellos eines gewissen Humorkritik-Insiderwissens, um mich zu überführen, daß ich, sowie einer etwas geringeren Genazino-Kenntnis, um zu verstehen, warum ich hier (abgesehen von den Zitaten) weitgehend wörtlich die Rezension kopiere, mit der ich im Oktober 2016 auf den damals neuen Genazino-Roman »Außer uns spricht niemand über uns« aufmerksam gemacht habe. Ich gestatte mir diesen zugegebenermaßen fragwürdigen Spaß natürlich, um so das Genazinosche Arbeitsprinzip der permanenten Motivwiederholung zu würdigen. Daß der neue Roman »Kein Geld, keine Uhr, keine Mütze« (Hanser) und dessen vertraut frauenbrustfixiert durch Frankfurt flanierender »Erzähler« noch depressiver angelegt und erheiternde Stellen wie die von mir zitierten leider noch rarer geworden sind, entspricht dem Trend der letzten Bücher Genazinos und mithin wiederum dem Prinzip des Seriellen. Jetzt fällt mir nichts mehr ein, was ich zu alldem noch sagen könnte. (Zur Wiedervorlage 2020.)