Humorkritik | Mai 2017

Mai 2017

»Das war wieder The Joy of Grief, die Wonne der Tränen, die ihm von Kindheit auf in vollem Maße zuteil ward, wenn er auch alle übrigen Freuden des Lebens entbehren mußte. Dies ging so weit, daß er selbst bei komischen Stücken, wenn sie nur einige rührende Szenen enthielten, als z.B. bei der Jagd, mehr weinte als lachte …«
Karl Philipp Moritz, »Anton Reiser«

Boon: de Funès, 1:1

Der Violinist François Gautier zieht es vor, zu Fuß zu gehen, egal wie lang der Weg ist: »Bei den Steuern, die ich zahle, fahre ich erst Bus, wenn er gratis wird.« Ist ein Kollege so nett, ihn auf dem Motorrad mitzunehmen, so verbleibt der Schutzhelm beim Absteigen in Gautiers Händen und wird erst nach wiederholten Hinweisen retourniert. Einkaufen geht Gautier nur mit einem Stapel Gutscheinen und Rabattmarken; während die Kassiererin dann die Preise zusammenrechnet, steht er mit dem Taschenrechner daneben und moniert Differenzen im Centbereich. C’est vrai: Monsieur Gautier (Dany Boon) hat »Nichts zu verschenken« (seit Anfang April im Kino). Sein Spleen führt ihn regelmäßig auf die Couch – allerdings nicht auf die eines Psychiaters, sondern die seines Bankberaters, der ihm als kurzfristige Therapie seinen Kontostand vorlesen muß. Auch für Gautiers leibliche Beschwerden weiß der arme Bankier Rat: »Immer noch Bauchweh? Essen Sie nicht so viele abgelaufene Lebensmittel.«

Die Figur des Pfennigfuchsers hat in der französischen Komödie Tradition. Molières »Der Geizige« ist das berühmteste Beispiel, und wenn sich Dany Boon, z.Zt. der wohl erfolgreichste Komödienmacher Frankreichs, an jemandem messen lassen muß, dann an Louis de Funès in ebendieser Rolle. (Dessen Film von 1980 mußte in Deutschland noch »Louis, der Geizkragen« heißen und war entsprechend frei-quatschig synchronisiert; erst 2008 kam eine Neuübersetzung heraus, die de Funès’ bzw. Molières Originaltext genauer entsprach.)

Was aber ergäbe denn nun ein Vergleich zwischen de Funès / Molière und Boon?

Ich sage: Gleichstand. Die dramaturgischen Kniffe und Verzwirblungen beherrscht Molière eindeutig besser: Alle Figuren sind bei ihm ständig in Zwängen, die aufs schönste miteinander kollidieren, etwa, wenn der kurzgehaltene Sohn des »Geizigen« sich über Umwege und zu irren Bedingungen Geld borgen muß, das dann, erraten, vom eigenen Vater stammt, der sich als Wucherer betätigt und ahnungslos vom Geldvermittler vorgeschwärmt bekommt, welch reiches Erbe sein Schuldner in Aussicht habe. Dany Boons Stärke hingegen ist die Anschaulichkeit. Thema Ernährung: Wo de Funès seine Diener schlicht anweist, den Hausgästen selten nachzuschenken und deren Essensreste einzusammeln, zwingt Boons Handlung seinen Geizhals in ein Luxusrestaurant, wo die Fallhöhe naturgemäß größer ist (»Ich nehme Wasser. Und hätten Sie die Schnecken auch einzeln?«). Thema Kirche: De Funès flieht sehr komisch vor der Kollekte, verfolgt vom Rasseln des Klingelbeutels. Boon-Gautier, der Geiger, will aus Gründen, deren Erörterung hier zu weit führt, vor Beginn eines Kirchenkonzerts überstürzt ausreißen – bis der Pfarrer Schadenersatz verlangt. Die Folge ist eine blitzgefiedelte zwölfminütige Version der »Vier Jahreszeiten«, bei der den Musikern der Schweiß aus den Anzügen spritzt. Thema Mitgift: Im »Geizigen« spielt diese Frage eine große Rolle, wie als Echo verfällt auch Boons Figur auf die Idee, seine Tochter suche ihn nur deshalb heim, weil sie heiraten wolle und eine Mitgift brauche. Ein Kollege weist ihn darauf hin, daß diese Sitte längst nicht mehr existiert; vielleicht war die Szene Zufall, ich nehme sie als Reminiszenz.

Daß »Nichts zu verschenken« mit einer schmalzigen Wendung überrascht, sollte uns nicht zu sehr verstimmen. Denn auch Meister Molière war in seinem Stück keineswegs um ein Ende verlegen, das gewaltig an den Perückenlocken herbeigezogen ist.

  

Aktuelle Startcartoons

Heftrubriken

Briefe an die Leser

 Weiter so, uruguayischer Künstler Pablo Atchugarry!

Eine angeblich von Ihnen geschaffene Bronzeskulptur im englischen Cambridge soll an Prinz Philip erinnern, der dort von 1977 bis 2011 Kanzler der Universität war. Allerdings wird das Kunstwerk, das im Auftrag eines reichen Bauträgers angefertigt wurde, von vielen als verunglückt empfunden und zieht seit nunmehr zehn Jahren Spott auf sich.

Dass Sie mittlerweile die Urheberschaft leugnen, um Ihr Renommee als Künstler zu schützen, ist zwar verständlich, aber aus unserer Sicht völlig unnötig. Wenn sich das Konzept durchsetzt, lästige Promis, die uns über Jahrzehnte viel Zeit, Geld und Nerven gekostet haben, mit langlebigen Schrott-Monumenten zu schmähen, werden Sie sich vor Aufträgen bald kaum noch retten können. Und das Beste: Weil andere Großkopferte sich mit ihren Eskapaden zurückhalten würden, um nicht von Ihnen verewigt zu werden, sorgten Sie auch noch für Ruhe und gesellschaftlichen Frieden.

Hofft, dass dieser Vorschlag einen Stein ins Rollen bringt: Titanic

 Hey, »Dyn Sports«!

Bitte für zukünftige Moderationen unbedingt merken: Die Lage eines Basketballers, der nach einem Sturz »alle Viere von sich streckt«, ist alles Mögliche, aber bestimmt nicht »kafkaesk«. Sagst Du das bitte nie wieder?

Fleht Titanic

 Ein Vorschlag, Clemens Tönnies …

Ein Vorschlag, Clemens Tönnies …

Während Ihrer Zeit im Aufsichtsrat bei Schalke 04 sollen Sie in der Halbzeitpause einmal wutentbrannt in die Kabine gestürmt sein und als Kommentar zur miserablen Mannschaftsleistung ein Trikot zerrissen haben. Dabei hätten Sie das Trikot viel eindrücklicher schänden können, als es bloß zu zerfetzen, Tönnies!

Sie hätten es, wie Sie es aus Ihrem Job kennen, pökeln, durch den verschmutzten Fleischwolf drehen und schließlich von unterbezahlten Hilfskräften in minderwertige Kunstdärme pressen lassen können.

Aber hinterher ist man immer schlauer, gell?

Dreht Sie gern durch den Satirewolf: Titanic

 Warum, Internet?

Täglich ermöglichst Du Meldungen wie diese: »›Problematisch‹: Autofahrern droht Spritpreis-Hammer – ADAC beobachtet Teuer-Trend« (infranken.de).

Warum greifst Du da nicht ein? Du kennst doch jene Unsichtbar-Hand, die alles zum Kapitalismus-Besten regelt? Du weißt doch selbst davon zu berichten, dass Millionen Auto-Süchtige mit Dauer-Brummbrumm in ihren Monster-Karren Städte und Länder terrorisieren und zum Klima-Garaus beitragen? Und eine Lobby-Organisation für Immer-Mehr-Verbrauch Höher-Preise erst verursacht?

Wo genau ist eigentlich das Verständlich-Problem?

Rätselt Deine alte Skeptisch-Tante Titanic

 Clever, »Brigitte«!

Du lockst mit der Überschrift »Fünf typische Probleme intelligenter Menschen«, und wir sind blöd genug, um draufzuklicken. Wir lernen, dass klug ist: wer mehr denkt, als er spricht, wer sich ungeschickt im Smalltalk anstellt, wer sich im Job schnell langweilt, wer sich mit Entscheidungen schwertut, wer bei Streit den Kürzeren zieht und wer ständig von Selbstzweifeln geplagt wird.

Frustriert stellen wir fest, dass eigentlich nichts von alledem auf uns zutrifft. Und als die Schwachköpfe, die wir nun einmal sind, trauen wir uns fast gar nicht, Dich, liebe Brigitte, zu fragen: Waren das jetzt nicht insgesamt sechs Probleme?

Ungezählte Grüße von Deiner Titanic

Vom Fachmann für Kenner

 Dual Use

Seit ich meine In-Ear-Kopfhörer zugleich zum Musikhören und als Wattestäbchen verwende, stört es mich gar nicht mehr, wenn beim Herausnehmen der Ohrstöpsel in der Bahn getrocknete Schmalzbröckelchen rauspurzeln.

Ingo Krämer

 Altersspezifisch

Ich gehöre noch zu einer Generation, deren Sätze zu häufig mit »Ich gehöre noch zu einer Generation« anfangen.

Andreas Maier

 100 % Maxx Dad Pow(d)er

Als leidenschaftlicher Kraftsportler wünsche ich mir, dass meine Asche eines Tages in einer dieser riesigen Proteinpulverdosen aufbewahrt wird. Auf dem Kaminsims stehend, soll sie an mich erinnern. Und meinen Nachkommen irgendwann einen köstlichen Shake bieten.

Leo Riegel

 Spielregeln

Am Ende einer Mensch-ärgere-dich-nicht-Partie fragt der demente Herr, ob er erst eine Sechs würfeln muss, wenn er zum Klo will.

Miriam Wurster

 Die wahre Strafe

Verhaftet zu werden und in der Folge einen Telefonanruf tätigen zu müssen.

Fabio Kühnemuth

Vermischtes

Erweitern

Das schreiben die anderen

Titanic unterwegs
07.05.2024 Köln, Stadthalle Martin Sonneborn mit Sibylle Berg
07.05.2024 Frankfurt am Main, Club Voltaire »TITANIC-Peak-Preview« mit Kathrin Hartmann
08.05.2024 Wiesbaden, Schlachthof Martin Sonneborn mit Sibylle Berg
09.05.2024 Zürich, Friedhof Forum Thomas Gsella