Humorkritik | Dezember 2016

Dezember 2016

»… ob nicht alle Satire bis zu einem gewissen Grad die stillschweigende Billigung des Gegenstandes beinhaltet, auf den sie abzielt. Ist nicht Orwells eigenes Buch 1984 in dem Land, das weltweit über die meisten Überwachungskameras pro Einwohner verfügt, fast zu einem offiziellen Text geworden? Und außerhalb von England staunte der österreichische Autor Thomas Bernhard, ebenfalls ein grimmiger Kritiker seines Landes, darüber, wie gierig die Leute seine Kritik aufsogen und wie laut sie ihm dafür applaudierten, daß er sie beschimpfte.«
Tim Parks

Eher Scheiß

»Das Internet war eine wunderbare Erfindung. Es war ein Computernetzwerk, das Menschen dazu nutzen, andere Menschen daran zu erinnern, daß sie ein mieses Stück Scheiße sind.« – »Die menschliche Spezies bestand aus einem Haufen Arschlöcher.« – »Wie jede andere Religion war auch diese tröstender Unfug, den Leute ernstnahmen.« – »Wie alle Mitglieder aller Regierungen waren die Russen ein Haufen dämlicher Arschlöcher.« Mußten Sie bei den vergangenen fünf Sätzen auch so oft lachen wie ich, nämlich null Mal?

Sie stehen in Jarett Kobeks »Ich hasse dieses Internet« (2016, deutsch bei S. Fischer), und Kobek wird dafür mit Ambrose Bierce und Michel Houellebecq verglichen; der Buchrücken wirbt mit »schonungslos« und mit »Satire«, und der Zeit-Journalist David Hugendick darf ebd. »ein großes Vergnügen« attestieren.

Manches ist tatsächlich hübsch, etwa, wenn es über die Entwicklung von Twitter heißt: »Und alle twitterten ständig über das Fernsehen … Sie [die Protagonistin] hatte sich fünfzehn Jahre lang anhören müssen, das Internet würde die amerikanische Kultur verändern und ganz neue Ausdrucksmöglichkeiten eröffnen. Aber am Ende kam dabei nur heraus, daß noch mehr Leute über das Fernsehen redeten.« Die meisten von Kobeks Sentenzen klingen allerdings ähnlich wie jene, die ich eingangs zitiert habe: Alles ist wahlweise ein »Dreckhaufen« oder ein »totaler Scheiß«, die menschliche Spezies besteht aus »Idioten«. Daß es Kobek um die wohlgefällige Formulierung nicht geht, rechtfertigt er damit, er habe absichtlich einen »schlechten Roman« schreiben wollen, das Konzept des »guten Romans« sei nämlich von der CIA erfunden worden, aus Propagandagründen, und »die einzige Lösung war, schlechte Romane zu schreiben, die das Rechnernetz mit seiner Besessenheit von Fastfoodmedien imitierten. Die einzige Lösung war, schlechte Romane zu schreiben, die das Rechnernetz mit seiner belanglosen und zerpflückten Darstellung von Inhalten imitierten«, und wenn mir aber einer derart alternativlos und dogmatisch kommt, klappe ich die Ohren zu.

Dabei finde ich Kobeks Stilmittel, das der Abschweifung und der Vertiefung, eigentlich ganz reizvoll: Erwähnt er in einem Absatz X, Y und Z, ist gewiß, daß im nächsten Absatz die Erklärungen folgen: »X war …«, »Bei Y handelte es sich um …«, »Z bedeutete …« Das liest sich, als würde man ein paar Stunden zu lange auf Wikipedia verbringen und sich von Unterartikel zu Unterartikel klicken, und eine Zeitlang macht das trotz Kobeks polemischer Schrotflintenmethode durchaus Spaß; über 365 Seiten erschöpft es mich aber.

Statt an Bierce und Houellebecq hätte ich deshalb zu Vergleichszwecken eher an Laurence Sternes »Tristram Shandy« gedacht, das Paradebeispiel eines Romans, dessen Handlung sich selbst im Weg steht, weil dem Autor zu jedem zaghaften Ansatz einer Handlung die Vorgeschichte dieser Handlung einfällt (so daß der Protagonist, Mr. Shandy, am Ende des dritten Bandes überhaupt erst geboren wird), und ähnlich wie Sterne – allerdings gute 250 Jahre später – läßt auch Kobek eines seiner Kapitel wegen Qualitätsmängeln ausfallen und erklärt statt dessen wortreich, was dringestanden hätte.

Derlei belustigt mich dann durchaus, und zwar auf verwaltungstechnischer Ebene. Inhaltlich darf ich zu Kobeks Buch jedoch anmerken: Über weite Strecken leider ein ziemlicher Scheiß.

  

Aktuelle Startcartoons

Heftrubriken

Briefe an die Leser

 Hello, Grant Shapps (britischer Verteidigungsminister)!

Eine düstere Zukunft haben Sie in einem Gastbeitrag für den Telegraph zum 75jährigen Bestehen der Nato skizziert. Sie sehen eine neue Vorkriegszeit gekommen, da sich derzeit Mächte wie China, Russland, Iran und Nordkorea verbündeten, um die westlichen Demokratien zu schwächen. Dagegen hülfen lediglich eine Stärkung des Militärbündnisses, die weitere Unterstützung der Ukraine und Investitionen in Rüstungsgüter und Munition. Eindringlich mahnten Sie: »Wir können uns nicht erlauben, Russisch Roulette mit unserer Zukunft zu spielen.«

Wir möchten aber zu bedenken geben, dass es beim Russisch Roulette umso besser fürs eigene Wohlergehen ist, je weniger Munition im Spiel ist und Patronen sich in der Trommel befinden.

Den Revolver überhaupt vom eigenen Kopf fernhalten, empfehlen Ihre Croupiers von der Titanic

 Wir wollten, »SZ«,

nur mal schnell Deine Frage »Gedenkbäume absägen. Hinweistafeln mit Hakenkreuzen beschmieren. Wer macht sowas?« beantworten: Nazis.

Für mehr investigative Recherchen wende Dich immer gerne an Titanic

 Recht haben Sie, Uli Wickert (81)!

Recht haben Sie, Uli Wickert (81)!

Die Frage, weshalb Joe Biden in seinem hohen Alter noch mal für das Präsidentenamt kandidiert, anstatt sich zur Ruhe zu setzen, kommentieren Sie so: »Warum muss man eigentlich loslassen? Wenn man etwas gerne macht, wenn man für etwas lebt, dann macht man halt weiter, soweit man kann. Ich schreibe meine Bücher, weil es mir Spaß macht und weil ich nicht Golf spielen kann. Und irgendwie muss ich mich ja beschäftigen.«

Daran haben wir, Wickert, natürlich nicht gedacht, dass der sogenannte mächtigste Mann der Welt womöglich einfach keine Lust hat, aufzuhören, auch wenn er vielleicht nicht mehr ganz auf der Höhe ist. Dass ihn das Regieren schlicht bockt und ihm obendrein ein Hobby fehlt. Ja, warum sollte man einem alten Mann diese kleine Freude nehmen wollen!

Greifen Sie hin und wieder doch lieber zum Golfschläger statt zum Mikrofon, rät Titanic

 Hä, »Spiegel«?

»Aber gesund machen wird diese Legalisierung niemanden!« schreibst Du in einem Kommentar zum neuen Cannabisgesetz. »Ach, echt nicht?« fragen wir uns da verblüfft. Wir waren bisher fest vom Gegenteil überzeugt. Immerhin haben Kiffer/innen oft sehr gute feinmotorische Fähigkeiten, einen gesunden Appetit und ärgern sich selten. Hinzu kommen die unzähligen Reggaesongs, in denen das Kiffgras als »Healing of the Nation« bezeichnet wird. All dies willst Du nun tatsächlich infrage stellen? Da lieber noch mal ganz in Ruhe drüber nachdenken!

Empfehlen Deine Blättchenfreund/innen von Titanic

 Hoppla, Berliner Gefängnischefs!

Drei von Euch haben laut Tagesspiegel wegen eines Fehlers der schwarz-roten Regierungskoalition statt einer Gehaltserhöhung weniger Geld bekommen. Aber der Ausbruch von Geldnöten soll durch einen Nachtragshaushalt verhindert werden. Da ja die Freundschaft bekanntlich beim Geld endet: Habt Ihr drei beim Blick auf Eure Kontoauszüge mal kurz über eine Ersatzfreiheitsstrafe für die nachgedacht, die das verbrochen haben?

Wollte diese Idee nur mal in den Raum stellen: Titanic

Vom Fachmann für Kenner

 Immerhin

Für mich das einzig Tröstliche an komplexen und schwer zugänglichen Themen wie etwa Quantenmechanik, Theodizee oder den Hilbertschen Problemen: Letztlich ist das alles keine Raketenwissenschaft.

Michael Ziegelwagner

 100 % Maxx Dad Pow(d)er

Als leidenschaftlicher Kraftsportler wünsche ich mir, dass meine Asche eines Tages in einer dieser riesigen Proteinpulverdosen aufbewahrt wird. Auf dem Kaminsims stehend, soll sie an mich erinnern. Und meinen Nachkommen irgendwann einen köstlichen Shake bieten.

Leo Riegel

 Konsequent

Die Welt steckt in der Spermakrise. Anzahl und Qualität der wuseligen Eileiter-Flitzer nehmen rapide ab. Schon in wenigen Jahren könnten Männer ihre Zeugungsfähigkeit vollständig verlieren. Grund hierfür sind die Verkaufsschlager aus den Laboren westlicher Großkonzerne. Diese Produkte machen den Schädling platt, das Plastik weich und das Braterlebnis fettfrei und wundersam. Erfunden wurden diese chemischen Erfolgsverbindungen von – Überraschung – Y-Chromosom-Trägern. Toll, dass sich Männer am Ende doch an der Empfängnisverhütung beteiligen.

Teresa Habild

 Gute Nachricht:

Letzte Woche in der Therapie einen riesigen Durchbruch gehabt. Schlechte Nachricht: Blinddarm.

Laura Brinkmann

 Back to Metal

Wer billig kauft, kauft dreimal: Gerade ist mir beim zweiten Sparschäler innerhalb von 14 Tagen die bewegliche Klinge aus ihrer Plastikaufhängung gebrochen. Wer Sparschäler aus Kunststoff kauft, spart also am falschen Ende, nämlich am oberen!

Mark-Stefan Tietze

Vermischtes

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Das schreiben die anderen

Titanic unterwegs
27.04.2024 Schwerin, Zenit Martin Sonneborn mit Sibylle Berg
28.04.2024 Lübeck, Kolosseum Martin Sonneborn mit Sibylle Berg
29.04.2024 Berlin, Berliner Ensemble Martin Sonneborn mit Sibylle Berg
30.04.2024 Hamburg, Kampnagel Martin Sonneborn mit Sibylle Berg