Humorkritik | Juni 2010

Juni 2010

Twain lesen!

»Chaucer ist tot, Spencer ist tot, Milton ist tot, ebenso wie Shakespeare, und auch ich fühle mich nicht so gut«, soll Mark Twain zu Beginn einer Lesung gesagt haben und hatte damit das Publikum im Sack. Inzwischen ist er wirklich tot, und das schon seit hundert Jahren. Schade eigentlich, wir könnten ihn gut gebrauchen. Nehmen Sie das Jubiläumsjahr zum Anlaß, einen Schriftsteller wiederzuentdecken, der wußte, wie man komische Texte schreibt und vorschriftsmäßig zusammenschraubt, der mit Leichtigkeit ungeheure Fallhöhen aufbauen konnte, einen Meister der Übertreibung, einen begnadeten Lügner und Aufschneider, der unvermittelt in eine sentimentale, romantisierende Tonlage wechseln konnte, um es gleich darauf erst so richtig krachen zu lassen. Beginnen Sie mit »Kannibalismus im Zug« (2001), einer Sammlung seiner bekanntesten Erzählungen, alle frisch übersetzt. Glauben Sie einem Mann, der schon viel Leid gelesen hat: Seit Twain hat sich nicht viel getan, auch in diesem Heft bedienen sich die Texter noch immer aus dem Twainschen Komikbaukasten. Lesen Sie danach unbedingt die »Reise durch Europa« (gibt es mit schönen Bildern vom späten Traxler), nicht nur wegen der legendären Abhandlung über die deutsche Sprache, sondern vor allem wegen seiner dreisten Schilderung eines beschaulichen Spaziergangs in den Bergen als hochdramatische Hochgebirgsexpedition. Hier zeigt uns Twain, daß man eine gelungene Übertreibung durch ständiges Weiterübertreiben tatsächlich noch verbessern kann. Der Leser hat die Idee längst begriffen, den Kniff hinlänglich durchschaut, doch Twain reitet gnadenlos weiter darauf herum. Und es wird erstaunlicherweise immer besser und rasender und komischer. Sobald man sich in Sicherheit wiegt, erwischt er einen dann noch mit einem harmlos daherkommenden Nebensatz direkt in der Magengrube.

 

Es gibt Dutzende Neuerscheinungen, ersparen Sie sich vorerst den kommentierten Briefwechsel mit seiner Frau, das Leben ist zu kurz für Binsenweisheiten wie: »Twain war aber nicht nur der gnadenlose Spötter, sondern konnte auch sensibel, fast zärtlich sein«. Lassen Sie auch die Finger von »Knallkopf Wilson«, sondern greifen Sie gleich zur neuen Übersetzung von Tom Sawyer (Hanser). Zur Einstimmung aber gehen Sie ins Netz und lesen Sie in der Online-Zeit den 1879 in Paris gehaltenen Vortrag »Überlegungen zur Kunst der Onanie«. Lassen Sie sich hinreißen von der charmanten Dreistigkeit, Bedenkenlosigkeit und Stilsicherheit des Mannes, den wir getrost als Entdecker der komischen Nordwestpassage feiern dürfen.

  

Aktuelle Startcartoons

Heftrubriken

Briefe an die Leser

 Könnte es sein, »ARD-Deutschlandtrend«,

dass Dein Umfrageergebnis »Mehrheit sieht den Frieden in Europa bedroht« damit zusammenhängt, dass seit über zwei Jahren ein Krieg in Europa stattfindet?

Nur so eine Vermutung von Titanic

 Ah, »Galileo«!

Über die Arbeit von Türsteher/innen berichtest Du: »Viele Frauen arbeiten sogar als Türsteherinnen«. Wir setzen noch einen drauf und behaupten: In dieser Branche sogar alle!

Schmeißen diese Erkenntnis einfach mal raus:

Deine Pointen-Bouncer von Titanic

 Recht haben Sie, Uli Wickert (81)!

Recht haben Sie, Uli Wickert (81)!

Die Frage, weshalb Joe Biden in seinem hohen Alter noch mal für das Präsidentenamt kandidiert, anstatt sich zur Ruhe zu setzen, kommentieren Sie so: »Warum muss man eigentlich loslassen? Wenn man etwas gerne macht, wenn man für etwas lebt, dann macht man halt weiter, soweit man kann. Ich schreibe meine Bücher, weil es mir Spaß macht und weil ich nicht Golf spielen kann. Und irgendwie muss ich mich ja beschäftigen.«

Daran haben wir, Wickert, natürlich nicht gedacht, dass der sogenannte mächtigste Mann der Welt womöglich einfach keine Lust hat, aufzuhören, auch wenn er vielleicht nicht mehr ganz auf der Höhe ist. Dass ihn das Regieren schlicht bockt und ihm obendrein ein Hobby fehlt. Ja, warum sollte man einem alten Mann diese kleine Freude nehmen wollen!

Greifen Sie hin und wieder doch lieber zum Golfschläger statt zum Mikrofon, rät Titanic

 Hey, »Dyn Sports«!

Bitte für zukünftige Moderationen unbedingt merken: Die Lage eines Basketballers, der nach einem Sturz »alle Viere von sich streckt«, ist alles Mögliche, aber bestimmt nicht »kafkaesk«. Sagst Du das bitte nie wieder?

Fleht Titanic

 Hä, »Spiegel«?

»Aber gesund machen wird diese Legalisierung niemanden!« schreibst Du in einem Kommentar zum neuen Cannabisgesetz. »Ach, echt nicht?« fragen wir uns da verblüfft. Wir waren bisher fest vom Gegenteil überzeugt. Immerhin haben Kiffer/innen oft sehr gute feinmotorische Fähigkeiten, einen gesunden Appetit und ärgern sich selten. Hinzu kommen die unzähligen Reggaesongs, in denen das Kiffgras als »Healing of the Nation« bezeichnet wird. All dies willst Du nun tatsächlich infrage stellen? Da lieber noch mal ganz in Ruhe drüber nachdenken!

Empfehlen Deine Blättchenfreund/innen von Titanic

Vom Fachmann für Kenner

 Dual Use

Seit ich meine In-Ear-Kopfhörer zugleich zum Musikhören und als Wattestäbchen verwende, stört es mich gar nicht mehr, wenn beim Herausnehmen der Ohrstöpsel in der Bahn getrocknete Schmalzbröckelchen rauspurzeln.

Ingo Krämer

 Immerhin

Für mich das einzig Tröstliche an komplexen und schwer zugänglichen Themen wie etwa Quantenmechanik, Theodizee oder den Hilbertschen Problemen: Letztlich ist das alles keine Raketenwissenschaft.

Michael Ziegelwagner

 Empfehlung für die Generation Burnout

Als eine günstige Methode für Stressabbau kann der Erwerb einer Katzentoilette – auch ohne zugehöriges Tier – mit Streu und Siebschaufel den Betroffenen Abhilfe verschaffen: Durch tägliches Kämmen der Streu beginnt nach wenigen Tagen der entspannende Eintritt des Kat-Zengarteneffekts.

Paulaner

 100 % Maxx Dad Pow(d)er

Als leidenschaftlicher Kraftsportler wünsche ich mir, dass meine Asche eines Tages in einer dieser riesigen Proteinpulverdosen aufbewahrt wird. Auf dem Kaminsims stehend, soll sie an mich erinnern. Und meinen Nachkommen irgendwann einen köstlichen Shake bieten.

Leo Riegel

 Citation needed

Neulich musste ich im Traum etwas bei Wikipedia nachschlagen. So ähnlich, wie unter »Trivia« oft Pub-Quiz-Wissen gesammelt wird, gab es da auf jeder Seite einen Abschnitt namens »Calia«, voll mit albernen und offensichtlich ausgedachten Zusatzinformationen. Dank Traum-Latinum wusste ich sofort: Na klar, »Calia« kommt von »Kohl«, das sind alles Verkohl-Facts! Ich wunderte mich noch, wo so ein Quatsch nun wieder herkommt, wusste beim Aufwachen aber gleich, unter welcher Kategorie ich das alles ins Traumtagebuch schreiben konnte.

Alexander Grupe

Vermischtes

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Das schreiben die anderen

Titanic unterwegs
27.04.2024 Schwerin, Zenit Martin Sonneborn mit Sibylle Berg
28.04.2024 Lübeck, Kolosseum Martin Sonneborn mit Sibylle Berg
29.04.2024 Berlin, Berliner Ensemble Martin Sonneborn mit Sibylle Berg
30.04.2024 Hamburg, Kampnagel Martin Sonneborn mit Sibylle Berg