Humorkritik | Februar 2010

Februar 2010

Radioaktive Diskokugeln

Sowenig wie den Rock’n’Roll kann man auch das Literaturgenre des Entwicklungsromans neu erfinden; konkreter: das des Künstler- bzw., noch konkreter, des Musikerromans. Man kann ihm nur neue Facetten hinzufügen: Heinz Strunks »Fleisch ist mein Gemüse« nahm sich des Grauens an, das Tanzkapellen wie Tiffanys anrichten, Rocko Schamoni beschrieb in »Dorfpunks«, wie der Punkrock auf dem schleswig-holsteinischen Land fröhliche Urstände feierte; Oliver Maria Schmitt schließlich nutzte in »AnarchoShnitzel schrieen sie« die Geschichte einer schwäbischen Krachband als Sprungbrett für eine phantastische Erzählung. Hermann Bräuers Beitrag zu diesem Reigen semibiographischer Provinzbandgeschichten ist sein Debütroman »Haarweg zur Hölle« (Ullstein), und auch der hat eine bislang zumindest von mir noch nicht so häufig gehörte Attitüde: nämlich eine speziell bayerische.

 

Im München der Achtzigerjahre spielt diese Geschichte vom Holzinger Andi und seiner Band. Es sind Revier und Zeit des Monaco Franze, in denen der Holzinger Andi in die Rolle des Nachwuchs-Stenz hineinzuwachsen versucht – ohne durchschlagenden Erfolg, aber auch ohne allzu schlimme Depressionen. Und so klampft der Bürgersohn zu seinen Van Halen-, Kiss- und Mötley Crüe-Träumen, lernt recht bald ein paar Mitschüler kennen, die im WOM die gleichen Platten probehören, und bekommt erste wichtige Lektionen von einem gewissen Dirk, dessen Mutter »bei ihrer Scheidung von einem Videothekenmogul offenbar das längere Streichholz gezogen und das Sorgerecht für eine absurd große Villa am Englischen Garten, für einen Mercedes 500 und für Dirk zugesprochen bekommen« hatte: »›Eins müßt ihr euch gut merken, Jungs‹, schärfte sie uns von Prosecco befeuert ein, ›wenn ihr mal verheiratet seid und ihn irgendwo anders reinstecken wollt, dann muß das so gut sein, daß es euch ein Haus wert ist!‹«

 

Der erste Teil des Romans von Hermann Bräuer, der sich bislang vornehmlich als Comedyautor fürs Fernsehen durchgeschlagen hat, lebt von der komischen Fallhöhe zwischen Schickeria-München und Nachwuchs-Metallern in Paillettenshirts und Spandexhosen.

 

Wie sie sich Künstlernamen aussuchen (»unser Bekanntenkreis setzte sich aus Menschen mit Spitznamen wie ›Mongo‹ Eberlein und Georg ›Binomische Formel‹ Lederer zusammen. Unsere Idole dagegen hießen Nasty Suicide, Blackie Lawless oder Nikki Sixx«), die Regeln für Bandnamen lernen und Übungsräume in der Schule akquirieren, ist leicht und hübsch dahingeschrieben. Und auch die Sexualität der Adoleszenten, bei Strunk ein ewiger Quell der Qual und des Selbstekels, ist hier die von heranwachsenden Vorstadt-Gigolos: Der Holzinger Andi läßt sich von Silvia, der älteren Schwester seines Bandkollegen Christian, zum Lustknaben machen, während eben jener Christian sich von einer sechzigjährigen Schauspielergattin in Grünwald entjungfern läßt, was ihnen einen Proberaum in Giesing einbringt. Wenn gewichst wird, dann richtig, und auch die Berichterstattung Wadls zu diesem Thema läßt an Klarheit nichts zu wünschen übrig: »Gestern Nachmittag hab ich mir dreizehnmal einen runtergezogen, die letzten vier Male kam aber nur noch Dampf raus, und meine Eier waren klein und hart wie Murmeln.«

 

Gegen den unbeschwerten ersten Teil des »Haarwegs« fällt der zweite leider ein wenig ab, in dem die Band Llord Nakcor (Rock and Roll rückwärts geschrieben) wider Erwarten tatsächlich so etwas wie Erfolg hat: Den Erlebnissen einer Provinz-Rockband auf Festivals, mit schmierigen Plattenfirmenbossen und verschlagenen Managern fehlt leider die humoristische Folie der Münchner Stenzhaftigkeit, denn natürlich würde ein Schwerstcharmeur wie der Monaco Franze nie aussehen wollen wie eine »radioaktive Diskokugel«. Echte Hair Metaller aber eben schon.

  

Aktuelle Startcartoons

Heftrubriken

Briefe an die Leser

 Ach, Scheuer-Andi,

wie der Spiegel meldet, wird niemand für Sie in den Bundestag nachrücken. Da scheinen die Fußstapfen wohl einfach zu groß zu sein.

Die Besten gehen immer zu früh …

Weiß Titanic

 Wir wollten, »SZ«,

nur mal schnell Deine Frage »Gedenkbäume absägen. Hinweistafeln mit Hakenkreuzen beschmieren. Wer macht sowas?« beantworten: Nazis.

Für mehr investigative Recherchen wende Dich immer gerne an Titanic

 Hallihallo, Michael Maar!

In unserem Märzheft 2010 mahnte ein »Brief an die Leser«: »Spannend ist ein Krimi oder ein Sportwettkampf.« Alles andere sei eben nicht »spannend«, der schlimmen dummen Sprachpraxis zum Trotz.

Der Literatur- ist ja immer auch Sprachkritiker, und 14 Jahre später haben Sie im SZ-Feuilleton eine »Warnung vor dem S-Wort« veröffentlicht und per Gastbeitrag »zur inflationären Verwendung eines Wörtchens« Stellung bezogen: »Nein, liebe Radiosprecher und Moderatorinnen. Es ist nicht S, wenn eine Regisseurin ein Bachmann-Stück mit drei Schauspielerinnen besetzt. Eine Diskussionsrunde über postmoderne Lyrik ist nicht S. Ein neu eingespieltes Oboenkonzert aus dem Barock ist nicht S.«

Super-S wird dagegen Ihr nächster fresher Beitrag im Jahr 2038: Das M-Wort ist ja man auch ganz schön dumm!

Massiv grüßt Sie Titanic

 Kurze Anmerkung, Benedikt Becker (»Stern«)!

»Wer trägt heute noch gerne Krawatte?« fragten Sie rhetorisch und machten den Rollkragenpullover als neues It-Piece der Liberalen aus, v. a. von Justizminister Marco Buschmann und Finanzminister Christian Lindner, »Was daran liegen mag, dass der Hals auf die Ampelkoalition besonders dick ist. Da hilft so eine Halsbedeckung natürlich, den ganzen Frust zu verbergen.«

Schon. Aber wäre es angesichts des Ärgers der beiden Freien Demokraten über SPD und Grüne nicht passender, wenn sie mal wieder so eine Krawatte hätten?

Ebenso stilistisch versiert wie stets aus der Mode: Titanic

 Prophetisch, »Antenne Thüringen«?

Oder wie sollen wir den Song verstehen, den Du direkt nach der von Dir live übertragenen Diskussion zwischen Mario Voigt und Björn Höcke eingespielt hast? Zwar hat der Thüringer CDU-Fraktionschef Höckes Angebot einer Zusammenarbeit nach der Wahl ausgeschlagen. Aber es wettet ja so manche/r darauf, dass die Union je nach Wahlergebnis doch noch machthungrig einknickt. Du jedenfalls lässt im Anschluss den Musiker Cyril mit seinem Remake des Siebziger-Lieds »Stumblin’ in« zu Wort kommen: »Our love is alive / I’ve fallen for you / Whatever you do / Cause, baby, you’ve shown me so many things that I never knew / Whatever it takes / Baby, I’ll do it for you / Whatever you need / Baby, you got it from me.« Wenn das nicht mal eine Hymne auf eine blau-schwarze Koalition ist!

Hätte sich dann doch eher »Highway to Hell« gewünscht: Titanic

Vom Fachmann für Kenner

 Dual Use

Seit ich meine In-Ear-Kopfhörer zugleich zum Musikhören und als Wattestäbchen verwende, stört es mich gar nicht mehr, wenn beim Herausnehmen der Ohrstöpsel in der Bahn getrocknete Schmalzbröckelchen rauspurzeln.

Ingo Krämer

 Immerhin

Für mich das einzig Tröstliche an komplexen und schwer zugänglichen Themen wie etwa Quantenmechanik, Theodizee oder den Hilbertschen Problemen: Letztlich ist das alles keine Raketenwissenschaft.

Michael Ziegelwagner

 Gute Nachricht:

Letzte Woche in der Therapie einen riesigen Durchbruch gehabt. Schlechte Nachricht: Blinddarm.

Laura Brinkmann

 Nicht lustig, bloß komisch

Während ich früher schon ein kleines bisschen stolz darauf war, aus einer Nation zu stammen, die mit Loriot und Heinz Erhardt wahre Zen-Meister der Selbstironie hervorgebracht hat, hinterfrage ich meine humoristische Herkunft aufgrund diverser Alltagserfahrungen jetzt immer öfter mit Gedanken wie diesem: Möchte ich den Rest meines Lebens wirklich in einem Land verbringen, in dem man während seiner Mittagspause in ein Café geht, das vor der Tür vollmundig mit »leckerem Hunde-Eis« wirbt, und auf seine Bestellung »Zwei Kugeln Labrador und eine Kugel Schnauzer« statt des fest eingeplanten Lachers ein »RAUS HIER!« entgegengebrüllt bekommt?

Patric Hemgesberg

 Mitgehört im Zug

»Prostitution ist das älteste Gewerbe der Welt!« – »Ja, aber das muss es ja nicht bleiben.«

Karl Franz

Vermischtes

Erweitern

Das schreiben die anderen

Titanic unterwegs
06.05.2024 Hannover, Pavillon Martin Sonneborn mit Sibylle Berg
06.05.2024 Hamburg, Centralkomitee Ella Carina Werner
07.05.2024 Köln, Stadthalle Martin Sonneborn mit Sibylle Berg
07.05.2024 Frankfurt am Main, Club Voltaire »TITANIC-Peak-Preview« mit Kathrin Hartmann