Humorkritik | Oktober 2009

Oktober 2009

Die freie Witzäußerung

Natürlich lag Salcia Landmann daneben, als sie in ihrer berühmten Anthologie »Jüdische Witze« zur Witzentwicklung in den USA die These aufstellte: »An die Stelle des geistvollen jüdischen Witzes tritt drüben mehr und mehr die Flucht in die psychoanalytische Behandlung«. Aber das war 1963, und da konnte sie freilich nicht wissen, daß und wie sehr gerade die »psychoanalytische Behandlung« (siehe Woody Allen) zu einer neuen, durchaus geistvollen Spielart des klassischen jüdischen Witzes avancierte. Auch Steven Bloom konnte sie noch nicht kennen. Aber wer kennt den überhaupt?

 

Hiermit schaffe ich Abhilfe: Bloom, 1942 in Brooklyn geborener Sohn eines polnischen Juden, lebt (wie es für einen Amerikaner ja ganz angemessen ist) in Heidelberg und hat mehrere Romane geschrieben, deren letzter, »Stellt mir eine Frage« (Wallstein Verlag), Frau Landmann widerlegt – handelt er doch von nichts anderem als dem manischen Erzählen geistvoller jüdischer Witze. Damit vertreibt sich eine Clique jüdischer Exileuropäer die Zeit, indem sie sich jeden Sonntag in Lokalitäten des Brooklyner Quartiers Brownsville trifft, um die »Weltprobleme« zu lösen. Ganz egal, worüber Jack Goldfarb, Archie Feinstein, Meyer Woolf und all die anderen debattieren – ob Koreakrieg oder Baseball –, stets fallen ihnen mehr oder weniger passende Witze ein, die zu erzählen sie nicht unterdrücken können:

 

»Der ist sogar noch besser, sagte Jack Goldfarb. Geht einer zum Rabbi…

 

Laß endlich gut sein, Jack, sagte Irving Mandel. Ich und Archie versuchen ein ernstes Gespräch zu führen.

 

Hast du noch nie vom Recht auf freie Meinungsäußerung gehört? sagte Jack Goldfarb. Und er sagt, wie ist das, ein bißchen was losmachen zu Jom Kippur, ist das erlaubt?«

 

Erlaubt ist das Recht auf freie Witzäußerung sogar am Krankenhausbett der Ehefrau, von derselben sogar unbedingt gefordert: »Du mußt schauen, daß du bei Kräften bleibst, sagte Meyer Woolf.

 

Wer braucht Kräfte? sagte Sonya. Hier drin rühr ich keinen Finger. Den von Pincus Feldman erzählen ist dir wohl nicht danach?«

 

Denn merke: »Wenn du warten wolltest, bis es ein passender Zeitpunkt für Witze ist, kannst du genausogut auf den Maschiach warten« – keine Situation ist zu banal oder zu tragisch, um nicht Anlaß eines Witzes zu sein, womit Bloom und seine Figuren mustergültig illustrieren, was Theoretiker des jüdischen Witzes als dessen Charakteristikum definiert haben, nämlich daß er »eine Ausgeburt der Not« ist (Hermann Hakel) bzw., knapp auf den Punkt gebracht: »die Wunderwaffe der Wehrlosen« (Peter Köhler).

 

Steven Blooms »Stellt mir eine Frage« ist aber mehr als eine Sammlung vieler sehr komischer jüdischer Witze, nämlich ein Roman, der im unentwegten Witzeln seiner wehrlosen Helden deren Schicksale in sogenanntem O-Ton dramaturgisch wie rhetorisch und stilistisch brillant zum Leben erweckt – allemal Geistvolles von drüben; und manchmal ziemlich Albernes: »Kommt ein Jude in die Synagoge gerannt und ruft: Juden, Juden, ich weiß etwas, stellt mir eine Frage.«

  

Aktuelle Startcartoons

Heftrubriken

Briefe an die Leser

 Hey, »Dyn Sports«!

Bitte für zukünftige Moderationen unbedingt merken: Die Lage eines Basketballers, der nach einem Sturz »alle Viere von sich streckt«, ist alles Mögliche, aber bestimmt nicht »kafkaesk«. Sagst Du das bitte nie wieder?

Fleht Titanic

 Bild.de!

»Springer hatte im Januar bundesweit für Entsetzen gesorgt«, zwischentiteltest Du mit einem Mal überraschend selbstreferenziell. Und schriebst weiter: »Nach der Enthüllung des Potsdamer ›Remigrations‹-Treffens von AfD-Politikern und Rechtsextremisten postete Springer: ›Wir werden Ausländer zurückführen. Millionenfach. Das ist kein Geheimnis. Das ist ein Versprechen.‹« Und: »In Jüterbog wetterte Springer jetzt gegen ›dahergelaufene Messermänner‹ und ›Geld für Radwege in Peru‹«.

Dass es in dem Artikel gar nicht um Dich bzw. den hinter Dir stehenden Arschverlag geht, sondern lediglich der Brandenburger AfD-Vorsitzende René Springer zitiert wird, fällt da kaum auf!

Zumindest nicht Titanic

 Hello, Grant Shapps (britischer Verteidigungsminister)!

Eine düstere Zukunft haben Sie in einem Gastbeitrag für den Telegraph zum 75jährigen Bestehen der Nato skizziert. Sie sehen eine neue Vorkriegszeit gekommen, da sich derzeit Mächte wie China, Russland, Iran und Nordkorea verbündeten, um die westlichen Demokratien zu schwächen. Dagegen hülfen lediglich eine Stärkung des Militärbündnisses, die weitere Unterstützung der Ukraine und Investitionen in Rüstungsgüter und Munition. Eindringlich mahnten Sie: »Wir können uns nicht erlauben, Russisch Roulette mit unserer Zukunft zu spielen.«

Wir möchten aber zu bedenken geben, dass es beim Russisch Roulette umso besser fürs eigene Wohlergehen ist, je weniger Munition im Spiel ist und Patronen sich in der Trommel befinden.

Den Revolver überhaupt vom eigenen Kopf fernhalten, empfehlen Ihre Croupiers von der Titanic

 Ah, »Galileo«!

Über die Arbeit von Türsteher/innen berichtest Du: »Viele Frauen arbeiten sogar als Türsteherinnen«. Wir setzen noch einen drauf und behaupten: In dieser Branche sogar alle!

Schmeißen diese Erkenntnis einfach mal raus:

Deine Pointen-Bouncer von Titanic

 Eher unglaubwürdig, »dpa«,

erschien uns zunächst Deine Meldung, Volker Wissing habe nach dem tödlichen Busunglück auf der A9 bei Leipzig »den Opfern und Hinterbliebenen sein Beileid ausgesprochen«. Andererseits: Wer könnte die Verstorbenen auf ihrem Weg ins Jenseits noch erreichen, wenn nicht der Bundesverkehrsminister?

Tippt aufs Flugtaxi: Titanic

Vom Fachmann für Kenner

 Mitgehört im Zug

»Prostitution ist das älteste Gewerbe der Welt!« – »Ja, aber das muss es ja nicht bleiben.«

Karl Franz

 Konsequent

Die Welt steckt in der Spermakrise. Anzahl und Qualität der wuseligen Eileiter-Flitzer nehmen rapide ab. Schon in wenigen Jahren könnten Männer ihre Zeugungsfähigkeit vollständig verlieren. Grund hierfür sind die Verkaufsschlager aus den Laboren westlicher Großkonzerne. Diese Produkte machen den Schädling platt, das Plastik weich und das Braterlebnis fettfrei und wundersam. Erfunden wurden diese chemischen Erfolgsverbindungen von – Überraschung – Y-Chromosom-Trägern. Toll, dass sich Männer am Ende doch an der Empfängnisverhütung beteiligen.

Teresa Habild

 100 % Maxx Dad Pow(d)er

Als leidenschaftlicher Kraftsportler wünsche ich mir, dass meine Asche eines Tages in einer dieser riesigen Proteinpulverdosen aufbewahrt wird. Auf dem Kaminsims stehend, soll sie an mich erinnern. Und meinen Nachkommen irgendwann einen köstlichen Shake bieten.

Leo Riegel

 Im Institut für Virologie

Jeder Gang macht krank.

Daniel Sibbe

 In Würde altern

Früher hätte mich der riesige Pickel mitten auf meinem Hals stark gestört. Heute trage ich den wohl niedlichsten ausgeprägten Adamsapfel, den die Welt je gesehen hat, mit großem Stolz ein paar Tage vor mir her.

Ronnie Zumbühl

Vermischtes

Erweitern

Das schreiben die anderen

Titanic unterwegs
28.04.2024 Lübeck, Kolosseum Martin Sonneborn mit Sibylle Berg
29.04.2024 Berlin, Berliner Ensemble Martin Sonneborn mit Sibylle Berg
30.04.2024 Hamburg, Kampnagel Martin Sonneborn mit Sibylle Berg
30.04.2024 Hannover, TAK Ella Carina Werner