Humorkritik | November 2006
November 2006
Der Vollmensch
Lesen oder lieben Sie Fahrradromane? In einem »Curiosa«-Band Hans A. Jennys, des Schweizer Büchersammlers und Kompen-dialisten, habe ich Kunde erhalten von einem »Veloziped-Roman« des Michel Angelo Freiherr von Zois, genannt Edelstein. Der 1874 in Schalkendorf geborene und 1945 in Schiefling verstorbene Adelsmann war mir nur als eine Sentenzen im Altersstil Goethes aushauchende Hauptfigur der zweiten »Bizarro-groteske« des Fritz Herzmanowsky-Orlando bekannt, die sich im 1. Buch seiner Sämtlichen Werke »Rout am Fliegenden Holländer« nennt. Auch für Friedrich Wilhelm Murnaus Film »Veritas vincit« ist er – »nach Ideen von Baron Zois« – als ein Urheber angegeben. In den »Letzten Tagen der Menschheit« kommt er vor, in der dritten Szene des dritten Aktes wird er von den Oberleutnants Beinsteller und Fallota erwähnt, und zwar als Redakteur der Kriegszeitung der 10. k.u.k. Armee. Fallota sagt: »Ja, der Zois, der hat halt einen Humor!« Beinsteller meint: »Schon sein Name is so gspassig.«
Es muß den Baron also gegeben haben.
Im Zentralen Antiquariatskatalog wird von ihm die Schrift »Das Training des Rennfahrers für Rennbahn und Landstraße« aus dem Jahr 1908 angeboten; des weiteren ein Novellenband »Was Junker Jörg in Welschland fand« und eine autobiographische Schrift. Das von Jenny angegebene Werk leider nicht. »Der Vollmensch«, ein »Veloziped-Roman«, ist wohl im Jahr 1900 im Verlag von Carl Reisner zu Dresden erschienen. Worum es geht?
Um Heini von Stein. Gerade mal ein Vierteljahrhundert ist Heini alt, aber schon hat er »in Austern geschlemmt und in Sekt, er erkletterte die Pyramiden Ägyptens; vertraut sind ihm die Wunder Indiens, und tausendund-eine Nacht hat er in Weiberarmen geruht – immer in andern.« Auf irgendeine Art wird ihm aber der Überdruß an der Fülle des Genossenen unabweisbar. Sein Freund Max ist Arzt und ein verständiger Mann. Heini fragt ihn, was er jetzt noch mit seinem Leben anfangen solle. »Schlicht und einfach« gibt ihm der Freund den Rat: »Radle!« Heini von Stein befolgt ihn. Er radelt. Und siehe da, »sein Körper stählt sich wie Eisen im Feuer, seine Seele wird leicht und frei«. Da ist der Schritt, Radrennfahrer zu werden, nicht mehr groß. Und siehe: »Von Triumph zu Triumph trägt ihn sein Racer – alle Matadoren des Velocipeds werden zunichte vor Heini von Stein.«
Der »Vollmensch«-Roman soll in den er-sten Jahren des 20. Jahrhunderts großes Aufsehen erregt haben. »Abertausende von Mitgliedern der Radsportverbände« verschlangen damals dieses »Kultbuch« mit Begeisterung, so Jenny. In einer Literaturkritik soll gestanden sein: »Die Szenen aus dem Radfahrerleben sind mit einer Verve, mit einer so hinreißenden Kraft erzählt, so lebendig, so packend und anschaulich, daß man von dem Talent dieses Dichters noch Bedeutendes erwarten darf. Der Radrennfahrer als Vollmensch überzeugt durch seine literarische Kraft und Saftigkeit jeden Leser!«
Klingt voll prima. Schon der Titel ist formidabel verranzt. Aber im Überfliegen des Vorstehenden denke ich: Nein, lesen will ich ihn lieber doch nicht. Daß es den Radfahrroman eventuell wirklich gab, das reicht mir bereits. Außerdem nenne ich ja schon die Sämtlichen Werke Herzmanowsky-Orlandos mein eigen.