Inhalt der Printausgabe
August 2006
Briefe an die Leser (Seite 14 von 17) |
Gebrüder Grimm! Es tut uns leid, Euch das nachrufen zu müssen, aber es ist die Wahrheit: Als Märchenerzähler könntet Ihr es heute nicht mehr mit der Beredsamkeit eines führenden Nachrichtenmagazins aufnehmen, das uns anläßlich der WM 2006 erzählte, König Fußball habe aus Deutschland »ein anderes Land« gemacht, »wie in einem Sommermärchen«, das von einem Hartz-IV-Empfänger namens Joachim Erfurt handelte: »Er ist ein hagerer, kranker Mann von 45 Jahren mit eingefallenen Wangen und einem wild wuchernden Vollbart«, hieß es in dem Märchen, in dessen fernerem Verlauf der besagte Herr Erfurt auf der Leipziger Fan-Meile zuerst noch einigermaßen verzagt »mit seiner halben Lunge« in eine Tröte bläst und dann allmählich Gefallen an der allgemeinen Partystimmung findet: »Er wollte dazugehören, er kaufte sich eine schwarzrotgoldene Blumenkette, eine Mütze mit der deutschen Flagge und scheint nun ein wenig verwundert zu sein über seine Verwandlung vom Kritiker Deutschlands zur Werbefigur für Deutschland. Doch er fühlt sich gut. Er ist ein bisschen angekommen.« Und wenn er nicht gestorben ist, kann er seine Blumenkette bei Ebay versteigern. Hey, mit solcher rührseligen Flower-Power gehen im 21. Jahrhundert die modernen Märchen aus, und das im Rohr von Rudolf Augsteins rostigem »Sturmgeschütz der Demokratie«! Ihr aber, liebe Gebrüder Grimm, habt mit Königreichen um Euch geschmissen, ohne an die damit einhergehende Schuldenlast zu denken. Hätte z.B. die Hexe nicht besser daran getan, dem gefangenen Hänsel eine Mütze mit der deutschen Flagge zuzustecken? »Hänsel schien ein wenig verwundert zu sein über seine Verwandlung vom Kritiker zur Werbefigur. Doch er fühlte sich gut. Er war ein bißchen angekommen.« Denkt mal drüber nach. Ein bißchen traurig: Titanic |
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