Inhalt der Printausgabe
Sperma in Tüten

von Ella Carina Werner
Das Leben ist grausam, ein endloses Jammertal und ein Höllentrip ohnegleichen. Andererseits ist es aber auch ziemlich gut, ja geradezu fantastisch, nicht zu toppen, wenn man es von der richtigen Warte aus betrachtet, das heißt: in Relation. Man muss sich zur gelungenen Daseinsbewältigung nur einmal bewusst machen, wie gut es einem geht.
Salzkrieger in Südtirol.
Hier ein paar Beispiele. Jeder, aber wirklich jeder Mensch hasst die Deutsche Post. Warteschlangen, knickerige Öffnungszeiten, abstoßende Glückwunschkarten im Zehner-Pack, überteuertes Paketband und an den Schaltern nichts als phlegmatische Idioten, die einem alles Schlechte an die Backe wünschen, etwa ein Postscheck-Konto. Anders gesagt, ein mit Neonröhren ausgeleuchteter Ort der Finsternis – das fand ich jedenfalls, bis ich kürzlich auf einem Postamt im Hinterland von Belgien war, um eine Ansichtskarte zu frankieren. Es nannte sich »Postkantoor«, hätte aber auch »Stinkplaats« oder »Onderweld« heißen können. Ich sage euch: Öffnungszeiten von 11.30 bis 13.15 Uhr, scheißebraunes Laminat, kaum Licht, von den Wänden wucherte der Schimmelpilz, kurz, das Ganze versprühte den Charme einer Leichenhalle, wobei es genauso roch. Nach 45 Minuten Wartezeit zog der Postmann auf mein Bitten in Zeitlupe eine Briefmarke aus einer speckigen Holzkiste und machte sich daran, deren Rückseite großzügig mit seiner pelzigen Riesenzunge, die dabei fast über den Postschalter schleifte, genüsslich zu befeuchten: Von rechts nach links, von oben bis unten und ohne Umschweife wieder zurück, wobei er die Diagonalen nicht ausließ, auf eine gleichmäßig nasse Umrandung besonderen Wert legte und zum Abschluss noch ein paar einzelne Akzente setzte, bevor die ganze Prozedur noch einmal von vorne begann. Dabei murmelte der Unhold was von »dubbel houdt better«. Das ging mehrere Minuten so, ehe der Sadist den nach Schnaps stinkenden, zerspeichelten Papierfetzen auf meine Karte drückte. Seither liebe ich die Deutsche Post.
Oder der ÖPNV! Die S-Bahnen in meiner Heimatstadt sind andauernd verspätet. Ich warte. Und warte. Und warte. Aber die Menschen in Kymlinge bei Stockholm warten noch viel länger. Seit 43 Jahren warten sie nun schon an ihrer verfluchten »Spökstation«, die einfach nicht fertig wird, warum, weiß der Himmel. Alle fünf Minuten gucken die armen Teufel auf die Uhr. Alle fünf Stunden, fünf Jahre, in immer größer werdenden Intervallen, wobei sie zwischendurch am Bahnsteig einnicken, Kinder zeugen, Zimtschnecken futtern und vergreisen. Ein Leben in Warteschleife, im endlosen Purgatorium. Wer möchte mit ihnen tauschen?
Jetzt wird es besonders krass, denn jetzt wird es politisch. Jetzt kommt Olaf Scholz. Als Staatschef ist dieser Mann kein großer Wurf, was sage ich: ein Griff ins Klo, ein Torfkopf par excellence. Aber die Engländer haben gar kein richtiges Staatsoberhaupt zurzeit, während es in Libyen gleich zwei von der Sorte gibt. Verwirrend! Zu wem soll man da beten, wenn es einsam und dunkel ist? Welches Herrscherporträt übers Sofa hängen? Wen zur Hölle wünschen? Wessen Arschgesicht ganz oben auf die Voodoo-Puppe sticken? Sämtliche Untertanen kommen durcheinander, jeden Tag, von den Nachrichtensprechern bis zu den Putschisten, denn ist der eine Despot gerade gestürzt, grinst der andere noch immer vom TV-Bildschirm.
Außerdem, und das vor allem, ist Olaf Scholz nicht Friedrich Merz. Das muss man sich immer wieder sagen. Er ist nicht Francisco Franco. Er ist nicht Iwan der Schreckliche. Er ist nicht Kardinal Richelieu, die Herzkönigin, Johnny Depp oder Nicolae Ceaușescu, auch wenn er oft so guckt. Er ist auch nicht Temür ibn Taraghai Barlas, jener spätmittelalterliche zentralasiatische Prinzipal, der Zehntausende Schädel seiner Feinde zu Pyramiden stapeln ließ. Olaf Scholz würde das nie tun, da bin ich mir sicher, und wenn doch, dann schön bodenständig Reih' in Reih', der Größe nach sortiert. Olaf Scholz ist kein selbstherrlicher Despot, der einen irren Personenkult um sich aufbaut wie Kim Jong-un oder Dirk Rossmann. Statt goldene Statuen bis zu den Wolken würde er, wenn's hoch kommt, zwergengroße aus Waschbeton für den Hausgebrauch anordnen, so bescheiden ist er.
Ein prächtiges Exempel auch: die steigenden Lebensmittelpreise. Mehl, Fleischwaren, Speiseöl ... inzwischen sogar Salz. Eine Packung bis zu 1,50 Euro! Noch im 18. Jahrhundert hätten die europäischen Fürsten einander für jede 500-g-Packung Bad Reichenhaller Alpen-Jodsalz getötet, so kostbar war damals das »Geschenk der Götter«. Auf fernen Schatzinseln wurde das weiße Gold vergraben, es wurden Prinzessinnen-Diademe aus Salzstein gefertigt, Salzkristalllampen waren Krönungsgeschenke. Man denke nur an die zahllosen Salzkriege oder den großen Salzaufstand von 1682 mit fünftausend Geköpften. Und wir sitzen hier gemütlich auf unseren Salzfässchen und maulen doof herum.
Alles fein in Liechtenstein, in Bingen am Rhein und sogar in Bahrain, sofern man nur die Unglücksfälle anderer Leute in der Zeitung verfolgt.
Oder natürlich: Körperprobleme. Jeder jammert, dass er zu viel wiegt. Und doch, auf dem Jupiter würden wir alle das Dreifache auf die Waage bringen, so stark würden wir an die Planetenoberfläche gezogen, ein Leben ohne Leichtigkeit – der Horror. Dem Bus hinterherrennen: keine Chance. Liegestütze: keine Chance. Fallschirmsprünge oder Stage-Diving wären nur noch etwas für Menschen mit sehr raschem Reaktionsvermögen, und ein Weitsprung von 35 Zentimetern wäre bereits Weltrekord. Auch Sex ist auf diesem monströsen Riesenplaneten eine eher schwergängige Angelegenheit, doch wen juckt's: Die Entfernungen sind so groß, dass man seinen Mitmenschen ohnehin nur sehr selten begegnen würde.
Apropos: Einer neueren Studie zufolge klagen die meisten Bundesbürger über zu wenig Sex. Aber woanders haben die Menschen viel zu viel davon, vor allem, was man so hört, in der Schweiz. Bis zu fünf Mal täglich! Das ist auch nichts. Wie soll man da je zur S-Bahn-Haltestelle kommen oder zum Postamt? Wie soll man da ein Reiterstandbild des neuen Herrschers kaufen? Schön ist das nicht.
Viele Menschen beklagen heute einen Burnout, wissen nicht mehr, wo ihnen der Kopf steht, aber früher hatten die Menschen gar keine Köpfe. Das mag man sich gar nicht mehr vorstellen. Dennoch, selbst sie haben ihr Leben irgendwie auf die Reihe gekriegt und nicht Trübsal geblasen durchs Poloch, stattdessen trugen sie die buntesten Hüte auf dem Halsstumpf (die Moden waren damals oft sehr seltsam).
Man kann das Ganze auch ins Persönliche, rein Subjektive drehen. Ich zum Beispiel bin dieser Tage ein bisschen erkältet, der linke Backenzahn tut weh, und die Wechseljahre klopfen auch schon an die Tür. Im Mittelalter hätte die Gicht wohl in diesen Wochen meinen letzten Finger gepackt, mehrere Pocken- und Geburtsnarben zierten meinen Leib, irgendein versoffener Vormund hielte mich in einer windschiefen Hütte gefangen, mit hoher Wahrscheinlichkeit wäre ich aber längst schon tot, bei der damaligen Lebenserwartung.
Was mir noch zu schaffen macht: Ich war noch niemals in New York und gräme mich deshalb seit Jahrzehnten, aber meine Vorfahren waren nicht mal in Jork im Landkreis Stade, obwohl sie zeitlebens davon träumten. Außerdem habe ich drei Kinder, eine Plackerei sondergleichen. Hasenweibchen gebären durchschnittlich acht Kinder, drei Mal im Jahr, und kein Bundespräsident erklärt sich je bereit, die Ehrenpatenschaft zu übernehmen.
Überhaupt: Tiere! Tiere sind immer und überall eine super Sache, um sich bewusst zu machen, dass das Leben noch viel, viel schlimmer sein könnte. Mit welchem Tier möchte man denn bitte tauschen? Mit einem Seeotter? Zu behaart. Mit einem Nilpferd? Zu nackt. Der Ameise? Zu sozialistisch. Dem Schneeleoparden? Zu neoliberal. Der Schwan? Ist zwanghaft monogam. Die Giraffe? Sieht im Bikini scheiße aus. Die Königskobra? Hat keine Hände. »Kannst du mal das Geschirr abtrocknen?« – »Nein.« – »Kannst du mal kurz das Paket halten?« – »Nein.« Die Qualle? Hat den stupidesten Sex. Die männliche Qualle übergibt der weiblichen eine Art Tüte mit Samenzellen, obwohl ich mir das bei Menschen aus Skandinavien oder Schottland auch ungefähr so vorstelle.
Und hier noch etwas sehr Wichtiges, Aufmunterndes zum Schluss. Deutschland hat zurzeit 2 319 773 000 000 Euro Staatsschulden. Aber es sind nicht 8 745 998 000 000 Euro. Es sind nicht 6 718 563 223 945 211 750 000 Euro. Geht doch. Das muss man sich immer mal vor Augen führen. Immer. Wieder. Dann kriegt man richtig gute Laune. So gute! Zum Beispiel gerade jetzt. Heißa, herrlich ist's, dieses Leben! Seligkeit, wohliges Behagen und Dankbarkeit nonstop. Darauf erst mal einen belgischen Schnaps.