Humorkritik | März 2010

März 2010

Mit Altersmeise durch die Revolution

Tagebücher holen ihren Reiz überwiegend aus der Indiskretion, selten aus der Bedeutung des Berichteten. Meist verschweigen sie die pikanteren Stellen einer Biographie; und wer wirklich Tiger erwürgt oder Präsidentenpaläste sprengt, führt darüber ohnehin nicht Protokoll. Den schlagendsten Beweis dieser These halte ich mit dem grauenvoll benamsten Buch »In Pantoffeln durch den Terror« (Eichborn) in Händen. Es handelt sich um die authentischen Aufzeichnungen eines gewöhnlichen Pariser Bürgers, abgefaßt in den Neunzigern des 18. Jahrhunderts, knietief im Blut der französischen Revolution.

 

Monsieur Célestin Guittard ist mit diesem Tagebuch ein beispielloses Kunststück gelungen, hat er es doch geschafft, diese Zeit zu überleben, ohne etwas zu erleben. Denn er durchstrolcht die Revolutionsjahre mit einer einzigartigen Perspektive: der des Rentners. Ohne größere finanzielle Sorgen, aber auch ohne wichtigere Beschäftigungen als den täglichen Kaffeeklatsch, notiert er mit der immergleichen senilen Akribie das Wetter, die Lottozahlen, die Menge der Guillotinierten und seine eigenen hypochondrischen Anwandlungen (»ich kann mich seit einiger Zeit nicht schneuzen«), kritzelt zur Stütze seines brüchigen Verstandes einige Beobachtungen aus dem revolutionären Alltag hin – und begegnet ihm doch mit blanker Verständnislosigkeit; eine Figur wie von Loriot, mitten im Frankreich Robespierres. Immerhin legt er getreulich Zeugnis ab, etwa von einer öffentlichen Versammlung: »Dort hielt ein Philosoph eine Rede, in dem Sinn, daß es nun weder Religion noch Gott gebe, daß alles Natur sei. Dann wurden Hymnen gesungen; dann erklommen nacheinander 5 oder 6 Redner die Kanzel und hielten ebenfalls Reden in diesem Sinn. Es war kein Wort zu verstehen bei dem Lärm.«

 

Guittard ist zu alt, die Entwicklungen auch nur annähernd zu begreifen, aber verschroben genug, um sich auf einzigartig exzentrische Weise dem Terror zu entziehen. So läßt er sich während der großen Pariser Hungersnot Brot mit der Postkutsche schicken, statt zu seinem Bruder aufs Land zu ziehen, und widmet sich verstärkt den Mysterienspielen der eigenen Gebrechlichkeit (»Ich konnte mich auf der linken Seite ein wenig besser schneuzen, aber auf der rechten Seite überhaupt nicht«). Das ist punktuell auch milde komisch – doch wen der Gedanke, das bedeutendste Kapitel der französischen Geschichte von einem schwerhörigen Pensionär erzählt zu bekommen, nicht hinreichend belustigt, wird sich, den überschwenglichen Rezensionen zum Trotz, recht schwertun mit diesem Buch. Es ist zum größten Teil geradezu abenteuerlich langweilig.

  

Aktuelle Startcartoons

Heftrubriken

Briefe an die Leser

 Hallihallo, Michael Maar!

In unserem Märzheft 2010 mahnte ein »Brief an die Leser«: »Spannend ist ein Krimi oder ein Sportwettkampf.« Alles andere sei eben nicht »spannend«, der schlimmen dummen Sprachpraxis zum Trotz.

Der Literatur- ist ja immer auch Sprachkritiker, und 14 Jahre später haben Sie im SZ-Feuilleton eine »Warnung vor dem S-Wort« veröffentlicht und per Gastbeitrag »zur inflationären Verwendung eines Wörtchens« Stellung bezogen: »Nein, liebe Radiosprecher und Moderatorinnen. Es ist nicht S, wenn eine Regisseurin ein Bachmann-Stück mit drei Schauspielerinnen besetzt. Eine Diskussionsrunde über postmoderne Lyrik ist nicht S. Ein neu eingespieltes Oboenkonzert aus dem Barock ist nicht S.«

Super-S wird dagegen Ihr nächster fresher Beitrag im Jahr 2038: Das M-Wort ist ja man auch ganz schön dumm!

Massiv grüßt Sie Titanic

 Weiter so, uruguayischer Künstler Pablo Atchugarry!

Eine angeblich von Ihnen geschaffene Bronzeskulptur im englischen Cambridge soll an Prinz Philip erinnern, der dort von 1977 bis 2011 Kanzler der Universität war. Allerdings wird das Kunstwerk, das im Auftrag eines reichen Bauträgers angefertigt wurde, von vielen als verunglückt empfunden und zieht seit nunmehr zehn Jahren Spott auf sich.

Dass Sie mittlerweile die Urheberschaft leugnen, um Ihr Renommee als Künstler zu schützen, ist zwar verständlich, aber aus unserer Sicht völlig unnötig. Wenn sich das Konzept durchsetzt, lästige Promis, die uns über Jahrzehnte viel Zeit, Geld und Nerven gekostet haben, mit langlebigen Schrott-Monumenten zu schmähen, werden Sie sich vor Aufträgen bald kaum noch retten können. Und das Beste: Weil andere Großkopferte sich mit ihren Eskapaden zurückhalten würden, um nicht von Ihnen verewigt zu werden, sorgten Sie auch noch für Ruhe und gesellschaftlichen Frieden.

Hofft, dass dieser Vorschlag einen Stein ins Rollen bringt: Titanic

 Recht haben Sie, Uli Wickert (81)!

Recht haben Sie, Uli Wickert (81)!

Die Frage, weshalb Joe Biden in seinem hohen Alter noch mal für das Präsidentenamt kandidiert, anstatt sich zur Ruhe zu setzen, kommentieren Sie so: »Warum muss man eigentlich loslassen? Wenn man etwas gerne macht, wenn man für etwas lebt, dann macht man halt weiter, soweit man kann. Ich schreibe meine Bücher, weil es mir Spaß macht und weil ich nicht Golf spielen kann. Und irgendwie muss ich mich ja beschäftigen.«

Daran haben wir, Wickert, natürlich nicht gedacht, dass der sogenannte mächtigste Mann der Welt womöglich einfach keine Lust hat, aufzuhören, auch wenn er vielleicht nicht mehr ganz auf der Höhe ist. Dass ihn das Regieren schlicht bockt und ihm obendrein ein Hobby fehlt. Ja, warum sollte man einem alten Mann diese kleine Freude nehmen wollen!

Greifen Sie hin und wieder doch lieber zum Golfschläger statt zum Mikrofon, rät Titanic

 Prophetisch, »Antenne Thüringen«?

Oder wie sollen wir den Song verstehen, den Du direkt nach der von Dir live übertragenen Diskussion zwischen Mario Voigt und Björn Höcke eingespielt hast? Zwar hat der Thüringer CDU-Fraktionschef Höckes Angebot einer Zusammenarbeit nach der Wahl ausgeschlagen. Aber es wettet ja so manche/r darauf, dass die Union je nach Wahlergebnis doch noch machthungrig einknickt. Du jedenfalls lässt im Anschluss den Musiker Cyril mit seinem Remake des Siebziger-Lieds »Stumblin’ in« zu Wort kommen: »Our love is alive / I’ve fallen for you / Whatever you do / Cause, baby, you’ve shown me so many things that I never knew / Whatever it takes / Baby, I’ll do it for you / Whatever you need / Baby, you got it from me.« Wenn das nicht mal eine Hymne auf eine blau-schwarze Koalition ist!

Hätte sich dann doch eher »Highway to Hell« gewünscht: Titanic

 Hoppla, Berliner Gefängnischefs!

Drei von Euch haben laut Tagesspiegel wegen eines Fehlers der schwarz-roten Regierungskoalition statt einer Gehaltserhöhung weniger Geld bekommen. Aber der Ausbruch von Geldnöten soll durch einen Nachtragshaushalt verhindert werden. Da ja die Freundschaft bekanntlich beim Geld endet: Habt Ihr drei beim Blick auf Eure Kontoauszüge mal kurz über eine Ersatzfreiheitsstrafe für die nachgedacht, die das verbrochen haben?

Wollte diese Idee nur mal in den Raum stellen: Titanic

Vom Fachmann für Kenner

 Mitgehört im Zug

»Prostitution ist das älteste Gewerbe der Welt!« – »Ja, aber das muss es ja nicht bleiben.«

Karl Franz

 Dual Use

Seit ich meine In-Ear-Kopfhörer zugleich zum Musikhören und als Wattestäbchen verwende, stört es mich gar nicht mehr, wenn beim Herausnehmen der Ohrstöpsel in der Bahn getrocknete Schmalzbröckelchen rauspurzeln.

Ingo Krämer

 Vom Feeling her

Es hat keinen Sinn, vor seinen Gefühlen wegzulaufen. Man muss sich schon auch mal hinter einem Baum verstecken und warten, dass die das nicht merken und an einem vorbeiziehen, sonst bringt das ja alles nichts.

Loreen Bauer

 Empfehlung für die Generation Burnout

Als eine günstige Methode für Stressabbau kann der Erwerb einer Katzentoilette – auch ohne zugehöriges Tier – mit Streu und Siebschaufel den Betroffenen Abhilfe verschaffen: Durch tägliches Kämmen der Streu beginnt nach wenigen Tagen der entspannende Eintritt des Kat-Zengarteneffekts.

Paulaner

 Im Institut für Virologie

Jeder Gang macht krank.

Daniel Sibbe

Vermischtes

Erweitern

Das schreiben die anderen

Titanic unterwegs
27.04.2024 Schwerin, Zenit Martin Sonneborn mit Sibylle Berg
28.04.2024 Lübeck, Kolosseum Martin Sonneborn mit Sibylle Berg
29.04.2024 Berlin, Berliner Ensemble Martin Sonneborn mit Sibylle Berg
30.04.2024 Hamburg, Kampnagel Martin Sonneborn mit Sibylle Berg