Humorkritik | März 2010

März 2010

Mehr Schulz

Nach seinem nicht nur von mir heiß gelobten Opus summum »Das Ouzo-Orakel« (TITANIC 6/2006) war ja schon die Frage, was von Frank Schulz überhaupt noch Welt- und Literaturbewegendes zu erwarten sei; die Antwort lautet jetzt »Mehr Liebe. Heikle Geschichten« (Galiani Berlin). So heißt der frische Band mit Erzählungen, in dem sich Schulz von der »Hagener Trilogie« (deren Schlußstein das »Orakel« war) emanzipiert; zum Glück nur vorsichtig. Denn am stärksten ist er da, wo wir Stammpersonal und -schauplätzen begegnen, seinem Alter Ego Bodo Morten wie den Geschwistern Kolk, dem Heimatdorf an der Unterelbe wie dem griechischen Inselparadies Kouphala. Und solcherart zu Haus, rollt Schulzens Prosa mit den bekannt betörenden Unwuchten voran bzw. pinselt er, was ich nach wie vor für ziemlich einmalig halte, mit dicker Borste wundersam feine Striche, das Motto des Bandes, das von Marie v. Ebner-Eschenbach stammt, sanft pointierend auszumalen: »Die meisten Menschen brauchen viel mehr Liebe, als sie verdienen.«

 

Da geschieht natürlich auch mal grenzgebührlich Pastoses: »Aufgrund der Furiosität, mit der sich seine Befürchtungen bestätigten, trug Zyko – da hätte Schuckert gewettet – eine Erektion davon«, aber gerade diese, wenn ich mich da selbst zitieren darf, linden Wackler und das stets am Übervollen Zitternde erden die Suche nach der verlorenen Zeit, auf der Schulz generalthematisch ist, auf zutiefst anrührende Weise: Denn »eben das macht ja den Dichter aus, daß er alles in sich aufhebt, was an eine künstliche Welt erinnert, daß er die Natur in ihrer ursprünglichen Einfalt wieder in sich herzustellen weiß« (Schiller). Und »die himmelschreiende Tragikomik der conditio humana« (Schulz a.a.O.) wird da zum Stilprinzip, wo Natur und Geist sich sieglos streiten. »Wunnebar« (Lou van Burg).

 

Auf gut dialektische Weise stehen die sanft schwächeren Erzählungen, die in Berlin oder auf Amrum spielen, dafür ein, daß Schulz ein Heimatdichter ist, und ich frage mich, ob es – bei allen vorsichtigen Experimenten, die »Mehr Liebe« wagt (eine Erzählung ist als »Collage« ausgezeichnet) – nicht dabei bleiben kann; Proust hat es ja auch nicht geschadet, zeitlebens zwischen Combray, Balbec und Paris gependelt zu sein. Der Krimi, an dem Schulz dem Vernehmen nach schreibt, kann von mir aus ruhig im Dreieck Beeckdörp – Hamburg – Griechenland spielen; denn Schulzens schlimmsüße »Sehnsucht« (S. 262) ist, er weiß es: Heimweh.

  

Aktuelle Startcartoons

Heftrubriken

Briefe an die Leser

 Hallihallo, Michael Maar!

In unserem Märzheft 2010 mahnte ein »Brief an die Leser«: »Spannend ist ein Krimi oder ein Sportwettkampf.« Alles andere sei eben nicht »spannend«, der schlimmen dummen Sprachpraxis zum Trotz.

Der Literatur- ist ja immer auch Sprachkritiker, und 14 Jahre später haben Sie im SZ-Feuilleton eine »Warnung vor dem S-Wort« veröffentlicht und per Gastbeitrag »zur inflationären Verwendung eines Wörtchens« Stellung bezogen: »Nein, liebe Radiosprecher und Moderatorinnen. Es ist nicht S, wenn eine Regisseurin ein Bachmann-Stück mit drei Schauspielerinnen besetzt. Eine Diskussionsrunde über postmoderne Lyrik ist nicht S. Ein neu eingespieltes Oboenkonzert aus dem Barock ist nicht S.«

Super-S wird dagegen Ihr nächster fresher Beitrag im Jahr 2038: Das M-Wort ist ja man auch ganz schön dumm!

Massiv grüßt Sie Titanic

 Hey, »Dyn Sports«!

Bitte für zukünftige Moderationen unbedingt merken: Die Lage eines Basketballers, der nach einem Sturz »alle Viere von sich streckt«, ist alles Mögliche, aber bestimmt nicht »kafkaesk«. Sagst Du das bitte nie wieder?

Fleht Titanic

 Hello, Grant Shapps (britischer Verteidigungsminister)!

Eine düstere Zukunft haben Sie in einem Gastbeitrag für den Telegraph zum 75jährigen Bestehen der Nato skizziert. Sie sehen eine neue Vorkriegszeit gekommen, da sich derzeit Mächte wie China, Russland, Iran und Nordkorea verbündeten, um die westlichen Demokratien zu schwächen. Dagegen hülfen lediglich eine Stärkung des Militärbündnisses, die weitere Unterstützung der Ukraine und Investitionen in Rüstungsgüter und Munition. Eindringlich mahnten Sie: »Wir können uns nicht erlauben, Russisch Roulette mit unserer Zukunft zu spielen.«

Wir möchten aber zu bedenken geben, dass es beim Russisch Roulette umso besser fürs eigene Wohlergehen ist, je weniger Munition im Spiel ist und Patronen sich in der Trommel befinden.

Den Revolver überhaupt vom eigenen Kopf fernhalten, empfehlen Ihre Croupiers von der Titanic

 Bild.de!

»Springer hatte im Januar bundesweit für Entsetzen gesorgt«, zwischentiteltest Du mit einem Mal überraschend selbstreferenziell. Und schriebst weiter: »Nach der Enthüllung des Potsdamer ›Remigrations‹-Treffens von AfD-Politikern und Rechtsextremisten postete Springer: ›Wir werden Ausländer zurückführen. Millionenfach. Das ist kein Geheimnis. Das ist ein Versprechen.‹« Und: »In Jüterbog wetterte Springer jetzt gegen ›dahergelaufene Messermänner‹ und ›Geld für Radwege in Peru‹«.

Dass es in dem Artikel gar nicht um Dich bzw. den hinter Dir stehenden Arschverlag geht, sondern lediglich der Brandenburger AfD-Vorsitzende René Springer zitiert wird, fällt da kaum auf!

Zumindest nicht Titanic

 Chillax, Friedrich Merz!

Sie sind Gegner der Cannabislegalisierung, insbesondere sorgen Sie sich um den Kinder- und Jugendschutz. Dennoch gaben Sie zu Protokoll, Sie hätten »einmal während der Schulzeit mal einen Zug dran getan«.

Das sollte Ihnen zu denken geben. Nicht wegen etwaiger Spätfolgen, sondern: Wenn ein Erzkonservativer aus dem Sauerland, der fürs Kiffen die Formulierung »einen Zug dran tun« wählt, schon in der Schulzeit – und trotz sehr wahrscheinlichem Mangel an coolen Freund/innen – an Gras kam, muss dann nicht so ziemlich jedes andere System besseren Jugendschutz garantieren?

Sinniert

Ihre Titanic

Vom Fachmann für Kenner

 Vom Feeling her

Es hat keinen Sinn, vor seinen Gefühlen wegzulaufen. Man muss sich schon auch mal hinter einem Baum verstecken und warten, dass die das nicht merken und an einem vorbeiziehen, sonst bringt das ja alles nichts.

Loreen Bauer

 Mitgehört im Zug

»Prostitution ist das älteste Gewerbe der Welt!« – »Ja, aber das muss es ja nicht bleiben.«

Karl Franz

 Frage an die Brutschmarotzer-Ornithologie

Gibt es Kuckucke, die derart hinterhältig sind, dass sie ihre Eier anderen Kuckucken unterjubeln, damit die dann fremde Eier in fremde Nester legen?

Jürgen Miedl

 Im Institut für Virologie

Jeder Gang macht krank.

Daniel Sibbe

 Dual Use

Seit ich meine In-Ear-Kopfhörer zugleich zum Musikhören und als Wattestäbchen verwende, stört es mich gar nicht mehr, wenn beim Herausnehmen der Ohrstöpsel in der Bahn getrocknete Schmalzbröckelchen rauspurzeln.

Ingo Krämer

Vermischtes

Erweitern

Das schreiben die anderen

Titanic unterwegs
04.05.2024 Gütersloh, Die Weberei Thomas Gsella
04.05.2024 Jena, F-Haus Martin Sonneborn mit Sibylle Berg
05.05.2024 Bonn, Rheinbühne Thomas Gsella
05.05.2024 Magdeburg, Factory Martin Sonneborn mit Sibylle Berg