Inhalt der Printausgabe
Juni 2006
Vom Fachmann für Kenner (Seite 9 von 12) |
All the Young Punks Auf die Gefahr hin, daß Sie die letzten sind, die es erfahren: Neulich ist mir meine Kaffeemaschine explodiert, und die Küchenwände waren dermaßen im Arsch, daß ich den Tapezierer anrücken ließ, der zu zwei Dritteln eine durchschnittlich chice Rauhfaser- und im übrigen eine Fototapete auftragen sollte, deren Vorlage ich im Internet entdeckt hatte: ein fotografisches Schwarzweiß-Stilleben vom Rande eines zwanzig Jahre vergangenen Jazzfestivals, mit Bäumen, allerhand Gerümpel, einem VW-Käfer, einem Lieferwagen mit der Aufschrift »Westfleisch«, einem Motorrad mit Berliner Kennzeichen und, mittig, einem Müllcontainer, darauf ein dicker Mann, der wie gefällt auf dem Rücken liegt und offensichtlich einen Rausch ausschläft. Die Verbindung von vedutenhafter Naturschilderung und einem dicken betrunkenen Mann war’s, die mich aus vagen biographistischen Gründen für das Foto erwärmt hatte und es zum Fototapetenshop spedieren ließ, nach einer Woche und der Überweisung eines mittleren Geldbetrags war die Tapetenrolle da, ich stellte sie dem Tapezierer hin und ließ ihn machen. Am Abend kam ich wieder, der Tapezierer war fertig, die Rauhfaser stand stumm in dem von mir ausgewählten Cremegraubraun und umrahmte das von 10x15 cm auf runde acht Quadratmeter hochgepitchte Foto, auf dem neben Bäumen, allerhand Gerümpel, einem VW-Käfer, einem Lieferwagen mit der Aufschrift »Westfleisch« und einem Motorrad mit Berliner Kennzeichen mittig ein Müllcontainer zu sehen war, darauf plötzlich kein dicker Mann mehr, sondern ein junger Punker, der wie gefällt auf der Seite liegt und offensichtlich einen Rausch ausschläft. Ich weiß nicht, inwieweit Sie mit meiner Sozialisation vertraut sind, aber punkferner, als meine gewesen ist, kann eine Jugend kaum sein. Nicht daß ich deshalb was gegen Punker hätte, das soll jeder halten, wie er möchte, aber im Wohnzimmer die Siegfried-Lenz-Gesamtausgabe und in der Küche, quasi auf dem Eßtisch, ab sofort ein besoffener Punk in Lebensgröße – wir werden uns aneinander gewöhnen müssen. Die neue Blumfeld-Platte hat er schon klaglos ertragen, vielleicht ist das ein Anfang. Stefan Gärtner
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