Inhalt der Printausgabe
Juni 2006
Vom Fachmann für Kenner (Seite 11 von 12) |
Die Tasche meiner Mutter
Ich stamme aus einfachen Verhältnissen. Mein Vater arbeitete in einer Annahmestelle für Altreifen, meine Mutter war zu Hause. Geld hatten wir kaum. Im Grunde lebten wir von dem, was die Natur uns bot bzw. was mein Vater von der Arbeit heimbrachte: Altreifen. Wenn wir Kinder Sonderwünsche hatten, hieß es immer: Das wird nicht gekauft, das bringt der Herr Vater (wir siezten unsere Eltern noch) von der Arbeit mit. Unsere Adidas-Schuhe, die getrockneten Steinpilze für das Gulasch am Wochenende und sogar meine erste Freundin bestanden daraus. Und als Mutter zur Silberhochzeit etwas ganz Besonderes geschenkt bekommen sollte, brachte Vater ihr einen kompletten Satz LKW-Reifen mit – runderneuert! Ich sehe sie noch vor mir, wie sie diese mit der ihr angeborenen Würde zur Silvestergala 1973 im »Haus der 1000 Biere« als Ohrschmuck trug. »Danke, Herr Mann!« seufzte sie glücklich, denn so hieß mein Vater: Hermann. Wir führten ein einfaches, aber zufriedenes Leben. Ich wuchs heran und konnte, weil ich Arbeit in einer Handtaschenmanufaktur fand, meine Eltern ein wenig unterstützen. Eines Tages erwähnte meine Mutter, daß all ihre Damen, mit denen sie sich donnerstags immer zum Schwertfischangeln traf, Rente kriegen würden, nur sie nicht. Da wußte ich, was ich zu tun hatte. Am nächsten Wochenende schon legte ich ihr eine wunderschöne Vinyl-Handtasche mit Seidenfutter auf den Küchentisch. »Was ist das, Sohn?« fragte sie. »Deine Rente, Mutter!« erwiderte ich (inzwischen duzen wir uns). Und jetzt ist es so, daß sie zufrieden lächelt, wenn in ihrer Angel-Runde mal wieder über die Rente geschimpft wird. Nein, sagt sie dann, sie könne sich nicht beklagen. Sie hätte eine wirklich schöne Rente, und zum Leben reiche es allemal. Robert Niemann
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