Inhalt der Printausgabe

»Die Verwirrung nimmt zu«

Deutschland in der 12. Internationalen »Brain Awareness Week«

 

FRANKFURT

 

Wolf Singer ist der berühmteste Hirnforscher Deutschlands. Bekannt wurde er durch eine sehr lautstark geführte philosophische ­Debatte vor einigen Jahren: Singer hatte den freien ­Willen des Menschen geleugnet; alles, was wir für selbständige Entscheidungen halten, finde in Wahrheit im Hirn statt. Damals wurde Singer von Philosophen und Geisteswissenschaftlern ziemlich zerzaust. Nachzusehen, ob sich der große Mann inzwischen erholt hat, war unser Ziel beim Besuch von Singers Vortrag »Wer regiert im Gehirn?« – wie auch der kostenlose Imbiß, den die Plakate verhießen.

 

Die Debatte um den freien Willen hat ihre Spuren hinterlassen. Zahlreiche Schau- und Hirnlustige, die den Vortrag im Frankfurter Uniklinikum besuchen, wirken roboterhaft, von einer äußeren Macht gesteuert. »Wir wollen zu Singer«, sagt beispielsweise ein ­älteres Pärchen zu einem Zivi, der am Eingang patrouilliert, »wir können nicht anders«, will man ergänzen. Alles strebt in den schönen neuen Hörsaal, wo Singer bereits unverwandt von einer Powerpoint-Präsentation herunter­blickt, dem »Großen Bruder« aus Orwells 1984 seltsam unähnlich.

 

Versüßt wird das Warten auf Singer durch einen Flyer des »Interdisziplinären Zentrums für Neurowissenschaften«, welches die Ver­anstaltung ausrichtet, eine Eloge auf die eigenen gewaltigen Leistungen: So sei es etwa gelungen, eine bestimmte Spezies von Würmern komplett fernzusteuern, mit Impulsen von blauem Licht. Paranoia beschleicht den Leser – denn auch der Bildschirm, an den Singer gleich treten wird, erstrahlt nach einem System­fehler im Licht des Bluescreen. Sind wir nicht Würmer in den Händen dieser ruchlosen Neurochirurgen? Prof. Zimmermann, Chef der »Europäischen Allianz für das Gehirn«, wirkt bereits in seinem Eingangsvortrag zu allem entschlossen: »Wir alle werden im Laufe unseres Lebens Opfer einer Gehirn­erkrankung werden.« Das Publikum raunt, fühlt sich ertappt. »Gehirnleistungs­störungen ­kosten 386 Milliarden jährlich«, rechnet Zimmermann weiter und blickt grimmig ins Auditorium. Allein die Anwesenden dürften geschätzte 77,6 Prozent dieser ungeheuren ­Summe verursachen, scheint sein Blick zu sagen, und seine Skalpellhand zuckt nervös.

 

Wolf Singer hebt mit dem Größten überhaupt an, den Grenzen der Erkenntnis. Unsere Weltsicht ist begrenzt, eklektisch, unser Handeln unzulänglich. Das blecherne Klingeln von Vivaldis »Frühling« aus einem Mobiltelefon unterstreicht die düsteren Sätze. Schuld hat, man ahnte schon, das Gehirn. Zu klein, vor allem aber zu alt ist es: Evolutionär hat es seit der Steinzeit keine Fortschritte gemacht. Dann der Donnerschlag: Auch unser Denken wird vom Gehirn bestimmt! Die Regeln logischen Schließens, die Gewichtung von Argumenten – all das passiert nur in unserem Kopf! »Das ist ein Diskurs, den man mit der Philosophie natürlich führen kann«, sagt er mit einem spitzbübischen Lächeln, auch im Publikum keckert es. Ja, die Philosophen! Sie hatten ihm, Singer, seinerzeit den Kopf gewaschen bzw. er ihnen das Gehirn, je nach Sichtweise.

 

Wolf Singer kann durch die Kraft seiner Hände Gegenstände bewegen (»schnicken«)

Singer zeigt Folien mit optischen Täusch­ungen; Tische, die gleich lang zu sein ­scheinen und es doch nicht sind, Felder, die grau erscheinen und es sind. Optische Täuschungen – woher kommt das? Die Antwort muß überraschen: vom Gehirn! Man könne sich zwar im Bewußtsein den Aufbau dieser Illusion erklären, fährt Singer fort, »entscheidend ist, daß es Ihnen nichts nutzt, den Unterschied zu kennen«, bevor er mit copperfieldschem Schwung eine weitere Täuschung auflöst. Ein anerkennendes Brummen geht durch die Reihen der Hirnwütigen, Applaus will kurz aufbranden. Doch Singer will weiter, in die Untiefen zwischenmenschlichen Verhaltens. »Also Fälle wie: Ich weiß, was du willst; ich weiß, was du fühlst«, sagt er zart während eines spontanen Mikrofonausfalls, und der junge Techniker, der in diesem Moment auf Kniehöhe hinter seinem Pult verschwindet, lädt diese Worte mit knisternder Erotik auf. Vereinzelt kichert es albern.

 

»Ganz hochentwickelte Gehirne sind sehr ­autistische Gehirne«, sagt Singer dann leise. Sind es auch einsame Gehirne? Sanfte Trauer schwingt jetzt in seiner Stimme. Wolf Singer, erwiesenermaßen eines der höchstentwickelten Gehirne des Landes, wenn nicht des Globus; sollte er am Ende – einsam sein? Ein Riesenhirn im Tank, gefangen im Singer-Körper, im Sing-Sing des eigenen Bewußtseins? Selbst die anwesende wissenschaftliche peer group vermag Singer kaum zu folgen, als es an die Präsentation neuester Forschungsergebnisse geht: »Wer will die Daten sehen? (Stille) Keiner?« Um sein Meister­stück gebracht, greint Singer, ein ­Laokoon, von stummer Qual umstrickt. »Die Leiden dieses Mannes, sie scheinen unbeschreiblich, unaussprechlich, unausdrücklich« ­(Hölderlin). Die nach seinem Vortrag auf ihn einstürmenden Fragen zaubern ihm nur ein verquältes Lächeln ins Antlitz: »Wenn ich in Trance auf der Autobahn fahre, was passiert da mit dem Gehirn?« fragt eine Dame mit Fahrerlaubnis – bis schließlich die Reihe an einem Studenten ist, der Salz in alte philosophische Wunden streut: »Ist das Gehirn deterministisch? Gibt es keine Freiheit?«

 

Zwei alte Rivalen: Singer, freier Wille

Nein, sagt Singer hart. Wenn wir Entscheidungen zu treffen glauben, dann gewinnt automatisch die, die sich im Gehirn durchsetzt, weil sie die spitzigsten neuroelektrischen Ellenbogen hat. Ganz am Ende einer endlosen Reihe von Fragestellern kommt ein junger Mann auf ihn zu, in dessen Augen lustig der Wahnsinn blitzt. »Kennen Sie das Spiel Streichholzschachtelschnicken?« fragt er Singer und baut es sogleich auf, als dieser verneint. Man müsse versuchen, neunmal mit Anlauf und ausgestrecktem Arm eine in einiger Entfernung aufgestellte Streichholzschachtel bewußt zu verfehlen, erklärt der Taugenichts. Und das Tolle: Wenn man beim zehnten Mal versucht, sie dennoch zu treffen (»Und jetzt schnick’s ein!«), gelingt es nicht. Schon geht es los, der junge Mann läuft stur seine Runden mit ausgestrecktem Arm. Singer sieht dem Treiben vergnügt zu, überwältigt von der schieren Narrheit, diesem Schauspiel eines gänzlich unfreien Hirns außer Rand und Band.

 

Aber soll das schon alles sein? Zynisches Gelächter über unsere eigene Unmündigkeit, über das Kleinkind Mensch am Gängelband der Neuronen? Hat das Gehirn denn überhaupt eine Zukunft, einen Sinn? Bestimmt weiß man in Nürnberg Rat!

ausgewähltes Heft

Aktuelle Cartoons

Heftrubriken

Briefe an die Leser

 Chillax, Friedrich Merz!

Sie sind Gegner der Cannabislegalisierung, insbesondere sorgen Sie sich um den Kinder- und Jugendschutz. Dennoch gaben Sie zu Protokoll, Sie hätten »einmal während der Schulzeit mal einen Zug dran getan«.

Das sollte Ihnen zu denken geben. Nicht wegen etwaiger Spätfolgen, sondern: Wenn ein Erzkonservativer aus dem Sauerland, der fürs Kiffen die Formulierung »einen Zug dran tun« wählt, schon in der Schulzeit – und trotz sehr wahrscheinlichem Mangel an coolen Freund/innen – an Gras kam, muss dann nicht so ziemlich jedes andere System besseren Jugendschutz garantieren?

Sinniert

Ihre Titanic

 Ah, »Galileo«!

Über die Arbeit von Türsteher/innen berichtest Du: »Viele Frauen arbeiten sogar als Türsteherinnen«. Wir setzen noch einen drauf und behaupten: In dieser Branche sogar alle!

Schmeißen diese Erkenntnis einfach mal raus:

Deine Pointen-Bouncer von Titanic

 Recht haben Sie, Uli Wickert (81)!

Recht haben Sie, Uli Wickert (81)!

Die Frage, weshalb Joe Biden in seinem hohen Alter noch mal für das Präsidentenamt kandidiert, anstatt sich zur Ruhe zu setzen, kommentieren Sie so: »Warum muss man eigentlich loslassen? Wenn man etwas gerne macht, wenn man für etwas lebt, dann macht man halt weiter, soweit man kann. Ich schreibe meine Bücher, weil es mir Spaß macht und weil ich nicht Golf spielen kann. Und irgendwie muss ich mich ja beschäftigen.«

Daran haben wir, Wickert, natürlich nicht gedacht, dass der sogenannte mächtigste Mann der Welt womöglich einfach keine Lust hat, aufzuhören, auch wenn er vielleicht nicht mehr ganz auf der Höhe ist. Dass ihn das Regieren schlicht bockt und ihm obendrein ein Hobby fehlt. Ja, warum sollte man einem alten Mann diese kleine Freude nehmen wollen!

Greifen Sie hin und wieder doch lieber zum Golfschläger statt zum Mikrofon, rät Titanic

 Ganz schön kontrovers, James Smith,

was Du als Mitglied der britischen Band Yard Act da im Interview mit laut.de vom Stapel gelassen hast. Das zu Werbezwecken geteilte Zitat »Ich feiere nicht jedes Cure-Album« hat uns jedenfalls so aufgewühlt, dass wir gar nicht erst weitergelesen haben.

Wir mögen uns nicht ausmalen, zu was für heftigen Aussagen Du Dich noch hast hinreißen lassen!

Findet, dass Provokation auch ihre Grenzen haben muss: Titanic

 Aha bzw. aua, Voltaren!

Das wussten wir gar nicht, was da in Deiner Anzeige steht: »Ein Lächeln ist oft eine Maske, die 1 von 3 Personen aufsetzt, um Schmerzen zu verbergen. Lass uns helfen. Voltaren.«

Mal von der Frage abgesehen, wie Du auf die 1 von 3 Personen kommst, ist es natürlich toll, dass Du offenbar eine Salbe entwickelt hast, die das Lächeln verschwinden lässt und den Schmerz zum Vorschein bringt!

Gratuliert salbungsvoll: Titanic

Vom Fachmann für Kenner

 Immerhin

Für mich das einzig Tröstliche an komplexen und schwer zugänglichen Themen wie etwa Quantenmechanik, Theodizee oder den Hilbertschen Problemen: Letztlich ist das alles keine Raketenwissenschaft.

Michael Ziegelwagner

 Empfehlung für die Generation Burnout

Als eine günstige Methode für Stressabbau kann der Erwerb einer Katzentoilette – auch ohne zugehöriges Tier – mit Streu und Siebschaufel den Betroffenen Abhilfe verschaffen: Durch tägliches Kämmen der Streu beginnt nach wenigen Tagen der entspannende Eintritt des Kat-Zengarteneffekts.

Paulaner

 Im Institut für Virologie

Jeder Gang macht krank.

Daniel Sibbe

 Spielregeln

Am Ende einer Mensch-ärgere-dich-nicht-Partie fragt der demente Herr, ob er erst eine Sechs würfeln muss, wenn er zum Klo will.

Miriam Wurster

 Konsequent

Die Welt steckt in der Spermakrise. Anzahl und Qualität der wuseligen Eileiter-Flitzer nehmen rapide ab. Schon in wenigen Jahren könnten Männer ihre Zeugungsfähigkeit vollständig verlieren. Grund hierfür sind die Verkaufsschlager aus den Laboren westlicher Großkonzerne. Diese Produkte machen den Schädling platt, das Plastik weich und das Braterlebnis fettfrei und wundersam. Erfunden wurden diese chemischen Erfolgsverbindungen von – Überraschung – Y-Chromosom-Trägern. Toll, dass sich Männer am Ende doch an der Empfängnisverhütung beteiligen.

Teresa Habild

Vermischtes

Erweitern

Das schreiben die anderen

Titanic unterwegs
27.04.2024 Schwerin, Zenit Martin Sonneborn mit Sibylle Berg
28.04.2024 Lübeck, Kolosseum Martin Sonneborn mit Sibylle Berg
29.04.2024 Berlin, Berliner Ensemble Martin Sonneborn mit Sibylle Berg
30.04.2024 Hamburg, Kampnagel Martin Sonneborn mit Sibylle Berg