Inhalt der Printausgabe

»Die Verwirrung nimmt zu«

Deutschland in der 12. Internationalen »Brain Awareness Week«

Die Dana-Foundation, eine amerikanische Organisation für Neurowissenschaft, ist Ausrichterin der Internationalen »Brain Awareness Week«, die sich in der zweiten Märzwoche 2008 zum zwölften Mal jährte. In dieser Woche ­sollte sich die Bevölkerung einmal ihres eigenen Hirns bewußt, das Problemfeld »Hirn« in den Köpfen aktiviert werden. Über 2100 Einrichtungen in 73 Ländern machten mit, und auch die TITANIC-Wissenschafts­redaktion hat einige Veranstaltungen in Deutschland überlebt.

 

NEUMARKT (Oberpfalz)

 

Es ist ein schwammiger Samstagmorgen im beschaulichen Neumarkt i. d. OPf. Der Niesel­regen peitscht die Gassen und ­Gesichter der Korres­pondenten Fischer/Breyer, die erfahren möchten, wie sich der bayerische Flecken dem Thema »Hirn« nähern will. Daß er es will, beweist das Grußwort des Oberbürgermeisters Thumann im Flyer »Brainweek 2008 in Neumarkt«: »Denken ist eine unserer zentralsten Fähigkeiten. Dabei geht es nicht nur darum, daß unser Gehirn auch optimal funktioniert; es geht auch darum, was und wie wir denken.« Die Passanten aber sind in »brain awareness« noch nicht sehr firm. Keiner ahnt, daß im Neumarkter Bürgerhaus gleich die Grenzen des Verstandes ausgelotet, Hirne auf Hochleistung gedrillt werden. Nach der »Woche des Gehirns« befragt, weiß eine Greisin nur: »Keine Ahnung, gehen Sie doch zu den Jugendlichen im Stadtcafé.« Die ungestüm herumstehende ­Neumarkter Hiphop-Jugend, die sich vor dem Stadtcafé aufgebaut hat, will aber lieber gar nicht erst befragt sein. In der »Buchhandlung Rupprecht« hat man immerhin schon mal davon gehört und bestätigt ansonsten gerne, daß sich die Woche des Gehirns nicht im geringsten auf den Absatz auswirkt. »Wir haben Sachen rausgestellt wie Gehirnjogging oder so.« Vergebens.

 

Angeblich verüben 6% der männlichen Bevölkerung 70% aller Kapitalverbrechen. Schuld hat das Gehirn

Die »Brainweek« hatte einen guten Start, wie die Neumarkter Nachrichten unter der Schlagzeile »Frühstück bringt Gehirn auf Trab« vom Vortag berichtet. Als Referentin konnte die örtliche AOK-Hexe gewonnen werden, ein ­Referat mit anschließender Verzehrmöglichkeit zu halten – um mit dem »Vorurteil« aufzuräumen, »daß ein gesundes Frühstück nicht schmecke«. Mit Erfolg: Das Pressefoto zeigt die gestochen scharf vor sich hin spachtelnden Veranstalter (»Ohne Essen keine Gehirn­funktion«), deren Hirne gut sichtbarlich nicht bloß im Trab, sondern bereits im gestreckten Galopp unterwegs sind. Und zwar querfeldein.

 

Das Bürgerhaus ist eine adrette kleine Bau­sünde im sklerotischen Herzen der Neumarkter Altstadt. Der erste Vortrag wird von H. E. Bürger bewältigt. Bürger ist »Denk-dich-fit«-­Trainer, kommt aus Roth und ist es im Gesicht – eine ­original fränkische Schläfenlappenpersönlich­keit. Mit im Gepäck hat er Zucker für ausgebrannte Neuronen: Arbeitsblätter mit sinnlosen Buchstabenkombinationen. Dem von dieser Vorstellung sichtlich überrumpelten Publikum vermittelt er das Hirn als »höchst aktives Körperorgan«, welches allerdings mit »klugen Lebensmitteln« gefüttert sein will. Und auch trinken muß es, »jede Stunde einen Viertelliter«, am besten »vor dem Durst«; oder eben über den.

 

Schon geht es ans Eingemachte. Das Aus­wendiglernen von Zeichenfolgen und Kopfrechenübungen versteht Bürger als »Anschubfinanzierung« für den Kopf und erklärt das Prinzip: »Es sind sinnlose Zahlen, die aneinandergereiht sind.« Stolz weist er auf eine begabte Hirnakrobatin hin (»Christiane Stenger, mehrfache Jugendweltmeisterin im Gehirn«), empfiehlt Computerspiele wie »Dr. Hiroshimas Nintendo« und »Boggle« – eine Empfehlung, die die Zuhörer zu Recht aufwühlt (»Ist das nicht Scrabble?« – »Lettramix heißt das ursprünglich!«). Im übrigen arbeiten die Teilnehmer aber tüchtig mit; der Auftrag, die Silbe »ch« in einem Gedicht abzuzählen, bringt viele konstruktive Vorschläge (»15!« »9!« »7!«), bevor man sich auf eine Lösung einigt (19). Bürger ist kein Freund strenger Methodik, Fragen kann er mit viel guter Laune ungeschehen machen: »Soll man sich das merken oder soll man sich die Zeichen vorstellen, bildlich?« – »Machen Sie das, was Ihnen Spaß macht!«

 

Im Puppenworkshop erlernen Kinder spielerisch den Umgang mit dem Hirn erlernen

Und es stimmt! Irgendwelche Buchstaben­gruppen in einem beliebigen Text erkennen schult die Fähigkeit, irgendwelche Buchstaben­gruppen in einem beliebigen Text zu erkennen. Mühelos gelingt bereits die Übung zum Thema »Merkspanne« – Zahlen auf einem Blatt sind kurz anzusehen und dann auswendig vorzutragen. Die Übung gelingt, da keiner der Zuhörer das Blatt abgedeckt, vielmehr jeder direkt vorgelesen hat. Bürger ist ekstatisch, empfiehlt, das Buchstabenspiel auch bei der Zeitungslektüre zu wiederholen (»Haupt­sache, wir tun überhaupt irgendwas!«). Ganz zum Ende zündet er eine wahre Neuronenbombe: eine Aktualisierung des Spruchs zum Merken der Planeten (»Mein Vater Erklärt Mir Jeden Sonntag Unseren Nacht­himmel«). Dies ­mache die Abwertung Plutos erforderlich. Die Zuhörerschaft ist ­außer sich: »Ja da schau her!« – »Ach, der Pluto ist weg’kumma?« – »Ja, super.« – »Gibt’s koan’ Nachfolger?« – »Und wer ist der H?«

 

Gott sei Dank gibt es Möglichkeiten, die schwer erhitzten Hirne gleich nach Vortragsende abzukühlen, etwa bei »Schau mal, wer da spricht – Handpuppenworkshop für ­Kinder«, bei einer zünftigen Blutzuckerbestimmung, bei dem eher unheimlich klingenden ­Seminar: »Der Elefant in deiner Hand – Kreative Fingerspiele für jung und alt« oder beim ­intuitiven Bogenschießen auf dem Hinterhof des Bürger­hauses. Letzteres macht so viel Spaß, daß man die anderen Veranstaltungen – trotz frisch trainierten Gedächtnisses! – praktisch sofort vergessen will und sowieso kann. Aber das journalistische Ethos gebietet es, auch die übrigen Veranstaltungen zu besuchen.

 

Wo es ums Hirn geht, wird so mancher draußen bleiben müssen

 

Z. B. den Vortrag »Legasthenie als Talent­signal«: Mit erfrischender Ehrlichkeit offenbart sich der Vortragende, Knobloch, gleich zu ­Anfang selbst als Legastheniker und Großtalent, berichtet von seinen Versuchen, anderen Legas­thenikern Mtu zu machen. Legastheniker sind keine dummen Menschen, heißt es, sie ­haben nur eine »niedrige Verwirrungsschwelle«. ­Verwirrung ist das Schlüsselwort dieser Vor­lesung: »Verwirrung verursacht bei Legasthenikern Desorientierung«, heißt es da, und ohnehin sei »Konzentration« »ein belasteter Begriff«. Die sanfte, hypnotische Stimme Knoblochs, ein unbeirrt vor sich hin brabbelndes Baby und der angenehm psychedelische Effekt, der entsteht, wenn Knobloch die Projektorleinwand durch Berührung zum Wabern bringt, lassen unsere Verwirrungsschwelle im Nu sinken. Das Publi­kum träumt, schaukelt sanft auf einer Woge der Legasthenie, versinkt in einem Reich wirrer Schönheit. ­Folien zeigen eine Art Wirbelsturm aus Worten wie »Angst«, »Frustration« und »Zwang«, die um einen besorgt dreinblickenden Kindskopf kreiseln (Knobloch: »Die Verwirrung nimmt zu«). Nur die ständigen Zwischenfragen besorgter Mütter (»Der Bua liest ned! Er liest ned, überhaupt ned!«, »Meine Tochter hat überhaupt keine Bilderkennung!«) stören das Glück. Eine andere berichtet von einer Tochter, die partout nicht aufräumen kann, alles liege immer herum. Knobloch kann sie beruhigen: die Tochter sei eben eine »visuelle«, keine ­»serielle« Begabung – und halt nicht das schlampige Stück, das sie ist.

 

Viel wäre noch zu lernen! Doch jetzt, da die Oberstübchen auf Vordermann gebracht sind, gilt es, Grundsätzliches zu klären – es geht zurück nach Frankfurt. Denn auch hier hat man »Hirn« als ein wichtiges Thema für sich entdeckt.

ausgewähltes Heft

Aktuelle Cartoons

Heftrubriken

Briefe an die Leser

 Helen Fares, c/o »SWR« (bitte nachsenden)!

Sie waren Moderatorin des Digital-Formats MixTalk und sind es nun nicht mehr, nachdem Sie ein launiges kleines Video veröffentlicht haben, in dem Sie zum Boykott israelischer Produkte aufriefen, mit Hilfe einer eigens dafür programmierten App, die zielsicher anzeigt, wo es in deutschen Supermärkten noch immer verjudet zugeht (Eigenwerbung: »Hier kannst Du sehen, ob das Produkt in Deiner Hand das Töten von Kindern in Palästina unterstützt oder nicht«).

Nach Ihrem Rauswurf verteidigten Sie sich in einem weiteren Video auf Instagram: »Wir sind nicht antisemitisch, weil wir es boykottieren, Produkte von Unternehmen zu kaufen, die Israel unterstützen. Ein Land, das sich vor dem Internationalen Gerichtshof wegen Genozid verantworten muss, weil es Zehntausende von Menschen abgeschlachtet hat.« Da sich aber auch Deutschland vor dem Internationalen Gerichtshof wegen Beihilfe zum Genozid verantworten muss, war Ihre Kündigung beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk ja ohnehin einvernehmlich, oder?

Kann es sich nicht anders vorstellen: Titanic

 Aha bzw. aua, Voltaren!

Das wussten wir gar nicht, was da in Deiner Anzeige steht: »Ein Lächeln ist oft eine Maske, die 1 von 3 Personen aufsetzt, um Schmerzen zu verbergen. Lass uns helfen. Voltaren.«

Mal von der Frage abgesehen, wie Du auf die 1 von 3 Personen kommst, ist es natürlich toll, dass Du offenbar eine Salbe entwickelt hast, die das Lächeln verschwinden lässt und den Schmerz zum Vorschein bringt!

Gratuliert salbungsvoll: Titanic

 Hallihallo, Michael Maar!

In unserem Märzheft 2010 mahnte ein »Brief an die Leser«: »Spannend ist ein Krimi oder ein Sportwettkampf.« Alles andere sei eben nicht »spannend«, der schlimmen dummen Sprachpraxis zum Trotz.

Der Literatur- ist ja immer auch Sprachkritiker, und 14 Jahre später haben Sie im SZ-Feuilleton eine »Warnung vor dem S-Wort« veröffentlicht und per Gastbeitrag »zur inflationären Verwendung eines Wörtchens« Stellung bezogen: »Nein, liebe Radiosprecher und Moderatorinnen. Es ist nicht S, wenn eine Regisseurin ein Bachmann-Stück mit drei Schauspielerinnen besetzt. Eine Diskussionsrunde über postmoderne Lyrik ist nicht S. Ein neu eingespieltes Oboenkonzert aus dem Barock ist nicht S.«

Super-S wird dagegen Ihr nächster fresher Beitrag im Jahr 2038: Das M-Wort ist ja man auch ganz schön dumm!

Massiv grüßt Sie Titanic

 Ganz schön unentspannt, Giorgia Meloni!

Ganz schön unentspannt, Giorgia Meloni!

Nachdem Sie eine Klage wegen Rufschädigung eingereicht haben, wird nun voraussichtlich ein Prozess gegen den britischen Rockstar Brian Molko eingeleitet. Dieser hatte Sie bei einem Konzert seiner Band Placebo in Turin als Nazi und Faschistin bezeichnet.

Wir finden, da könnten Sie sich mal etwas lockermachen. Wer soll denn bitte noch durchblicken, ob Sie gerade »Post-«, »Proto-« oder »Feelgood-« als Präfix vor »Faschistin« bevorzugen? Und: Wegen solcher Empflichkeiten gleich vor Gericht zu gehen, kostet die Justiz so viel wertvolle Zeit. Die könnte sie doch auch nutzen, um Seenotretter/innen dingfest zu machen oder kritische Presse auszuschalten. Haben Sie darüber schon mal nachgedacht, Sie Snowflake?

Schlägt ganz gelassen vor: Titanic

 Kurze Anmerkung, Benedikt Becker (»Stern«)!

»Wer trägt heute noch gerne Krawatte?« fragten Sie rhetorisch und machten den Rollkragenpullover als neues It-Piece der Liberalen aus, v. a. von Justizminister Marco Buschmann und Finanzminister Christian Lindner, »Was daran liegen mag, dass der Hals auf die Ampelkoalition besonders dick ist. Da hilft so eine Halsbedeckung natürlich, den ganzen Frust zu verbergen.«

Schon. Aber wäre es angesichts des Ärgers der beiden Freien Demokraten über SPD und Grüne nicht passender, wenn sie mal wieder so eine Krawatte hätten?

Ebenso stilistisch versiert wie stets aus der Mode: Titanic

Vom Fachmann für Kenner

 Spielregeln

Am Ende einer Mensch-ärgere-dich-nicht-Partie fragt der demente Herr, ob er erst eine Sechs würfeln muss, wenn er zum Klo will.

Miriam Wurster

 Immerhin

Für mich das einzig Tröstliche an komplexen und schwer zugänglichen Themen wie etwa Quantenmechanik, Theodizee oder den Hilbertschen Problemen: Letztlich ist das alles keine Raketenwissenschaft.

Michael Ziegelwagner

 Konsequent

Die Welt steckt in der Spermakrise. Anzahl und Qualität der wuseligen Eileiter-Flitzer nehmen rapide ab. Schon in wenigen Jahren könnten Männer ihre Zeugungsfähigkeit vollständig verlieren. Grund hierfür sind die Verkaufsschlager aus den Laboren westlicher Großkonzerne. Diese Produkte machen den Schädling platt, das Plastik weich und das Braterlebnis fettfrei und wundersam. Erfunden wurden diese chemischen Erfolgsverbindungen von – Überraschung – Y-Chromosom-Trägern. Toll, dass sich Männer am Ende doch an der Empfängnisverhütung beteiligen.

Teresa Habild

 Altersspezifisch

Ich gehöre noch zu einer Generation, deren Sätze zu häufig mit »Ich gehöre noch zu einer Generation« anfangen.

Andreas Maier

 Empfehlung für die Generation Burnout

Als eine günstige Methode für Stressabbau kann der Erwerb einer Katzentoilette – auch ohne zugehöriges Tier – mit Streu und Siebschaufel den Betroffenen Abhilfe verschaffen: Durch tägliches Kämmen der Streu beginnt nach wenigen Tagen der entspannende Eintritt des Kat-Zengarteneffekts.

Paulaner

Vermischtes

Erweitern

Das schreiben die anderen

Titanic unterwegs
27.04.2024 Schwerin, Zenit Martin Sonneborn mit Sibylle Berg
28.04.2024 Lübeck, Kolosseum Martin Sonneborn mit Sibylle Berg
29.04.2024 Berlin, Berliner Ensemble Martin Sonneborn mit Sibylle Berg
30.04.2024 Hamburg, Kampnagel Martin Sonneborn mit Sibylle Berg