Inhalt der Printausgabe

Die schlesische Stunkfunze

Verehrt, vereinnahmt, vergessen:
Über den schlesischen Komiker Ludwig Manfred Lommel

 

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Unpolitischer Heimatfrontkämpfer: Lommel mit der späterhin BRD-TV-Schreckschraube G. Schlüter bei der Herrenvolksbelustigung

Bisweilen bestand die Sendung auch nur daraus, daß das Ehepaar selbst Radio hörte und Lommel in Kurzparodien penetrante Programmstützen imitierte: Schmalz-Tenöre wie Erwin Hartung (Kleine Möwe, flieg nach Helgoland) und den Hermann Löns knödelnden Franz Baumann (Leonore, schönstes Kind, auf der Heide pfeift der Wind), Richard Tauber, den zickig-frivolen Paul O’Montis (Küß mich, Schnuckiputzi), Kunstpfeifer Guido Gialdini und den dank einer deutschen Gasgranate nur noch flüsternden »Whispering Jack« Smith. Samt allen Zwischengeräuschen: Radioskala-Gezisch beim Sendereinstellen, Hühnergackern, Kommentaren Paulines (und, bei einer alten Carusoplatte, Kurbeln, Nadelaufsetzen und Hängenbleiben) improvisiert Lommel die ganze Aufnahme in einem Durchgang vor sausender Matritze.

 

Dabei entsteht auch reine Klangartistik: ein seltsamer Stehkonvent deutscher Dialekte unter Paulines Fensterbrett, eine akustische Interpunktion für Radio und Schallplatte, die die Satzzeichen durch allerlei Plopp- und Pupsgeräusche markiert, oder auch ein Potpourri sämtlicher Geräuschzumutungen für einen Berliner Mietskasernenbewohner: Sägegeräusche im Parterre, das Surren des Kintopp-Apparats im Lichtspieltheater nebenan (altes und neues Modell), Bohrergesumm und Wassertrinken aus einer Zahnarztpraxis, Defilee einer Militärkapelle, eine Kanarien-Menagerie auf dem Nachbarbalkon, Ansprache eines Hofbettlers mit anschließendem Balalaikageklimper, Feuerwerk im Luna-Park, Automobil-Ankurbeln plus Wegfahren und dazu eine komplette Probe der Oper »Die tote Sau« inkl. Stimmen der Instrumente und Rezitativ.

 

Wie Lommel seine Dorfflegel überhaupt gern hehrem Bildungsgut aussetzt: Pauline verirrt sich, nachdem sie verdorbenen Kirschkuchen verdrückt hat, mit ihrem Gejammer in den Gretchen-Monolog, zum »Probesingen in Runxendorf« erscheint zunächst der überkandidelte Amadeus Furius (Rezitator verschiedener ernster und heiterer Lyrik – realistisch, idealistisch, futuristisch), um sich an »Wanderers Nachtlied« zu vergehen, dann zwitschert Liedersängerin Kunigunde Kleister kongenial schwachsinnig den »Schmied« von Brahms. Häufigstes Parodieopfer war allerdings Couplet-Star Otto Reutter, mit dem Lommel, überlieferten Sticheleien nach, eine Art Neidkomplex verband; ganz grundlos, denn während Reutters Späße einförmig über den Leisten unerschütterlichen Biedersinns gekloppt werden, sind Lommels Stimmungsbilder ungleich vertrackter.

 

Denn das wirklich Besondere an Lommels Vorträgen sind gewiß nicht die 80 Jahre alten Staubfänger-Pointen: Und nun der Wetterbericht des meteorologischen Krematoriums!, sondern die Attitüde der Präsentation: ein Abstandnehmen ganz eigener Art, dem ein stummes Unentschieden zwischen Herablassung gegenüber dem Provinzvölkchen und widerstrebender Anerkennung seiner krachvitalen Energie beim Durchwursteln immer unterlegt ist; speziell wenn ihm – in Runxendorfer Karikierung – Ansprüche fragwürdig gewordener Instanzen oder gesellschaftlicher Konvention vorgelegt werden und es nach Maßgabe seiner kruden Weltsicht gar nicht weiß, wozu der ganze Krempel überhaupt gut sein soll. Und ihn entsprechend hemdsärmelig abfertigt.

 

Dieses immer mitvermittelte Offenhalten, zweifellos Nachwirkung seiner biographischen Brüche, schlägt als akzentuierender Kniff noch durch dicksten Dialekt-Brodem und hebt Lommel mit seiner technischen Avanciertheit weit über den damaligen Komik-Durchschnitt. Konserviert sind außerdem lauter längst entschwundene damalige Umgangs-O- und -Untertöne: Wenn Handtaschenfurie Pauline, normalerweise Inbild weiblicher Geistesgegenwart und berechnend wie nur eine, in pseudosüßer Sangesfreude Grinzinger Heurigen-Geschrammel intoniert und sich in eigener Kitschseligkeit aalt, ergibt das schon eine elend präzise Acht-Sekunden-Studie damals normkonformer Verlogenheit. Ähnlich erhellend: wie zwei sich herzlich unsympathische Parkbesucher »auf einer Bank« mit dem seinerzeitigen Spektrum nichtssagender Redensarten sich abtasten oder ein reichswehrtypischer Stabsarzt den Reservisten Neugebauer durchleuchtet. Und wie rücksichtslos der Volksmund keine zehn Jahre nach dem Waffenstillstand den Ersten Weltkrieg erledigte, belegt nicht nur der heruntergeleierte Standard-Rapport eines Hoftorbettlers: Ick bin een Opfa von den Kriech, ick war sieben Mal vaschüttet und acht mal leicht vamißt…, sondern auch Paul Neugebauers Flapserei, bevor er aufs Finanzamt geht: Ich bin ja mutig, war vier Jahre bei Werduhn und Waucks-Mohbeuge, ich hab watt jelernt … Dutzendfach sind derlei alltagsatmosphärische Partikel in Lommels Knister-Epopöen verkapselt.

 

Auch kommerziell geriet sein niederschlesischer Buschfunk zur Goldmine. Breslau-Runxendorf wurde reichsweit übertragen, die Berliner Scala engagierte Lommel als Conférencier (bald für damals sagenhafte 30000 Mark im Monat), nachgeschobene Schallplatten machten ihn zum meistverkauften Schellack-Humoristen der späten Weimarer Jahre. In der Folge zeigen sich frappante Vorläufer heutiger Comedy-Usancen: wachsende Gagenforderungen, ein 100-PS-Rolls-Royce (den ersten fuhr sein Chauffeur im Harz prompt zu Bruch), allerhand Zweitverwertung zwischen Buchdeckeln mit Co-Autor Mardicke (Pauline, auf nach Kanada) nebst lanciertem PR-Mumpitz wie dem, Lommel habe einen Stummen zum Reden gebracht: Tatsächlich hatte beim Direktor des Großkinos am Bülowplatz ein Mann mit Kehlkopftuberkulose dargetan, ihm sei aus froher Erregung über Lommel die Sprache wiedergekommen.

»Falls Sie mich noch nicht kennen: Ich heiße Lommel. Mein Beruf ist Freudenbringer oder Komiker. Soll ich Ihnen etwas erzählen, oder wie man bei mir daheeme in Schlesien sagt: vorlabern? Mit Vergnügen!«

Neben Tourneen, Rundfunk und Varieté macht der Lommel-Trust 1931 auch in Militär-Kintopp: Zu jedem bunten Rock gehört ein Unterrock behauptet das (von der Zensur verbotene) Plakat zum Film »Kasernenzauber«. »Lommel à femmes« (Kollegenspott) wandelt die Maxime privatim ab, steigt Jungschauspielerinnen nach, soweit die aufstiegslustig nicht sowieso sein Hotelbett entern; die Ehe mit Frau Marguerite geht darüber in die Brüche. Tochter Ruth, später selbst B-Filmstar, rekapituliert 1947 in einem Büchlein heitere Erlebnisse, in denen der Vater nur als peripherer Unhold auftritt, der sie in eine Klosterschule steckt, schon als Kind ersatzweise für sich auftreten läßt, später zwingt, zeitweilig unter dem Namen »Regine Holberg« aufzutreten, und zum Geldeintreiben bei Schuldnern schickt.

 

1933 wird die schlesische Funkstunde zum »Reichssender Breslau«; statt des alten Weckers rummst nun der »Hohenfriedberger« als Pausenzeichen. Seine Runxendorf-Follies sehen die Nazis Lommel zwar als Folkore nach, für staatsnotwendig erachten sie sein akustisches Dorf-Gewimmel aber keineswegs. So steckt er zurück, zieht unter der Behelfsfahne »lustiger Lommel-Abende« wie einst über Land, pichelt vor Auftritten mit den Dorfoberen und hockt dann, die Abendkasse in einer Zigarrenkiste, bis zum Frühzug nach Berlin hinter der Bahnhofsrotunde. 1938 ist er für ein Jahr Direktor im Lustspielhaus in der Friedrichstraße, die ohne die Nazis sichere Filmkarriere bleibt ihm – abgesehen von einem Auftritt im Grete-Weiser-Streifen »Hilde und die vier PS« und etwas Vorprogramm-Klamauk – aber verwehrt.

 

Das Rubrum »Volkshumor« läßt ihn dafür beim Rundfunk allmählich wieder einsickern, mit einer zeitweiligen Favoritin sogar in feste Positionen. Titel der »Berliner Illustrierten« vom 12. Februar 1942: An jedem Wochenende hört sie ganz Deutschland im Rundfunk, lacht über sie und singt den Leierkasten-Kehrreim mit: »Das ist auch richtig… aber was kommt dann?« Es sind Herr Schnick und Frau Schnack, Ludwig Manfred Lommel und Gisela Schlüter.

 

Mit dem damals knapp 22jährigen nach-maligen »Zwischenmahlzeit«-Besen geht er da schon seit längerem auch auf Truppenbetreuungstour. Ein auf Wehrmachtsbändern am 18.9.1941 mitgeschnittener Bunter Abend für Verwundete im Lazarett von Grafenwöhr dokumentiert einen ziemlich laschen Lommel, die Schlütersche dafür bereits in ganzer Gräßlichkeit. (Hörprobe 1,8 MiB, MP3) Zwischendurch hat ihn ein Offizierslehrgang in Wunstorf sogar reaktiviert, ihren 51jährigen Panzerjäger-Leutnant kann die Wehrmacht aber weiter entbehren. So sondiert er in der ’42er Sommerfrische im Ostseebad Bansin unbehelligt von Lidice, Rostow und El Alamein die Promenade und verschafft sich an einem Fahrkartenschalter die zweite Ehefrau Karla.

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Aktuelle Cartoons

Heftrubriken

Briefe an die Leser

 Verehrte Joyce Carol Oates,

da Sie seit den Sechzigern beinah im Jahrestakt neue Bücher veröffentlichen, die auch noch in zahlreiche Sprachen übersetzt werden, kommen Sie vermutlich nicht dazu, jeden Verlagstext persönlich abzusegnen. Vielleicht können Sie uns dennoch mit ein paar Deutungsangeboten aushelfen, denn uns will ums Verrecken nicht einfallen, was der deutsche Ecco-Verlag im Sinn hatte, als er Ihren neuen Roman wie folgt bewarb: »›Babysitter‹ ist ein niederschmetternd beeindruckendes Buch, ein schonungsloses Porträt des Amerikas der oberen Mittelschicht sowie ein entlarvender Blick auf die etablierten Rollen der Frau. Oates gelingt es, all dies zu einem unglaublichen Pageturner zu formen. In den späten 1970ern treffen in Detroit und seinen Vorstädten verschiedene Leben aufeinander«, darunter »eine rätselhafte Figur an der Peripherie der Elite Detroits, der bisher jeglicher Vergeltung entkam«.

Bitte helfen Sie uns, Joyce Carol Oates – wer genau ist ›der Figur‹, dem es die elitären Peripherien angetan haben? Tragen die Leben beim Aufeinandertreffen Helme? Wie müssen wir uns ein Porträt vorstellen, das zugleich ein Blick ist? Wird das wehtun, wenn uns Ihr Buch erst niederschmettert, um dann noch Eindrücke auf uns zu hinterlassen? Und wie ist es Ihnen gelungen, aus dem unappetitlich plattgedrückten Matsch zu guter Letzt noch einen »Pageturner« zu formen?

Wartet lieber aufs nächste Buch: Titanic

 Ganz schön unentspannt, Giorgia Meloni!

Ganz schön unentspannt, Giorgia Meloni!

Nachdem Sie eine Klage wegen Rufschädigung eingereicht haben, wird nun voraussichtlich ein Prozess gegen den britischen Rockstar Brian Molko eingeleitet. Dieser hatte Sie bei einem Konzert seiner Band Placebo in Turin als Nazi und Faschistin bezeichnet.

Wir finden, da könnten Sie sich mal etwas lockermachen. Wer soll denn bitte noch durchblicken, ob Sie gerade »Post-«, »Proto-« oder »Feelgood-« als Präfix vor »Faschistin« bevorzugen? Und: Wegen solcher Empflichkeiten gleich vor Gericht zu gehen, kostet die Justiz so viel wertvolle Zeit. Die könnte sie doch auch nutzen, um Seenotretter/innen dingfest zu machen oder kritische Presse auszuschalten. Haben Sie darüber schon mal nachgedacht, Sie Snowflake?

Schlägt ganz gelassen vor: Titanic

 Hello, Grant Shapps (britischer Verteidigungsminister)!

Eine düstere Zukunft haben Sie in einem Gastbeitrag für den Telegraph zum 75jährigen Bestehen der Nato skizziert. Sie sehen eine neue Vorkriegszeit gekommen, da sich derzeit Mächte wie China, Russland, Iran und Nordkorea verbündeten, um die westlichen Demokratien zu schwächen. Dagegen hülfen lediglich eine Stärkung des Militärbündnisses, die weitere Unterstützung der Ukraine und Investitionen in Rüstungsgüter und Munition. Eindringlich mahnten Sie: »Wir können uns nicht erlauben, Russisch Roulette mit unserer Zukunft zu spielen.«

Wir möchten aber zu bedenken geben, dass es beim Russisch Roulette umso besser fürs eigene Wohlergehen ist, je weniger Munition im Spiel ist und Patronen sich in der Trommel befinden.

Den Revolver überhaupt vom eigenen Kopf fernhalten, empfehlen Ihre Croupiers von der Titanic

 Rrrrr, Jesus von Nazareth!

Rrrrr, Jesus von Nazareth!

Im andalusischen Sevilla hast Du eine Kontroverse ausgelöst, der Grund: Auf dem Plakat für das Spektakel »Semana Santa« (Karwoche) habest Du zu freizügig ausgesehen, zu erotisch, ja zu hot!

Tja, und wie wir das besagte Motiv anschauen, verschlägt es uns glatt die Sprache. Dieser sehnsüchtige Blick, der kaum bedeckte anmutige Körper! Da können wir nur flehentlich bitten: Jesus, führe uns nicht in Versuchung!

Deine Dir nur schwer widerstehenden Ungläubigen von der Titanic

 Hallihallo, Michael Maar!

In unserem Märzheft 2010 mahnte ein »Brief an die Leser«: »Spannend ist ein Krimi oder ein Sportwettkampf.« Alles andere sei eben nicht »spannend«, der schlimmen dummen Sprachpraxis zum Trotz.

Der Literatur- ist ja immer auch Sprachkritiker, und 14 Jahre später haben Sie im SZ-Feuilleton eine »Warnung vor dem S-Wort« veröffentlicht und per Gastbeitrag »zur inflationären Verwendung eines Wörtchens« Stellung bezogen: »Nein, liebe Radiosprecher und Moderatorinnen. Es ist nicht S, wenn eine Regisseurin ein Bachmann-Stück mit drei Schauspielerinnen besetzt. Eine Diskussionsrunde über postmoderne Lyrik ist nicht S. Ein neu eingespieltes Oboenkonzert aus dem Barock ist nicht S.«

Super-S wird dagegen Ihr nächster fresher Beitrag im Jahr 2038: Das M-Wort ist ja man auch ganz schön dumm!

Massiv grüßt Sie Titanic

Vom Fachmann für Kenner

 Gute Nachricht:

Letzte Woche in der Therapie einen riesigen Durchbruch gehabt. Schlechte Nachricht: Blinddarm.

Laura Brinkmann

 Tödliche Pilzgerichte (1/1)

Gefühlte Champignons.

Lukas Haberland

 Spielregeln

Am Ende einer Mensch-ärgere-dich-nicht-Partie fragt der demente Herr, ob er erst eine Sechs würfeln muss, wenn er zum Klo will.

Miriam Wurster

 Empfehlung für die Generation Burnout

Als eine günstige Methode für Stressabbau kann der Erwerb einer Katzentoilette – auch ohne zugehöriges Tier – mit Streu und Siebschaufel den Betroffenen Abhilfe verschaffen: Durch tägliches Kämmen der Streu beginnt nach wenigen Tagen der entspannende Eintritt des Kat-Zengarteneffekts.

Paulaner

 Immerhin

Für mich das einzig Tröstliche an komplexen und schwer zugänglichen Themen wie etwa Quantenmechanik, Theodizee oder den Hilbertschen Problemen: Letztlich ist das alles keine Raketenwissenschaft.

Michael Ziegelwagner

Vermischtes

Erweitern

Das schreiben die anderen

Titanic unterwegs
27.04.2024 Schwerin, Zenit Martin Sonneborn mit Sibylle Berg
28.04.2024 Lübeck, Kolosseum Martin Sonneborn mit Sibylle Berg
29.04.2024 Berlin, Berliner Ensemble Martin Sonneborn mit Sibylle Berg
30.04.2024 Hamburg, Kampnagel Martin Sonneborn mit Sibylle Berg